20. Mai 2025 · 
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80 Stimmen für Olaf Lies: Die Lager im Landtag scheinen fester gefügt zu sein als angenommen

Olaf Lies zeigt sich nach seiner Wahl demütig. | Foto: Link

Was ihm wohl so durch den Kopf gegangen ist, als alle Abgeordneten ihre Stimmen abgegeben hatten, wird Ministerpräsident Olaf Lies (SPD) kurz nach der Wahl von einem Reporter gefragt. Es geht um die 13 Minuten, in denen die Abstimmung beendet war, die Auszählung noch lief und keiner wissen konnte, wie das Ergebnis ausfallen wird. „Das ist ein extrem aufregender Moment“, antwortet der neue Regierungschef. „Man merkt dann, wie groß die Aufgabe ist, die einem übertragen wird – und es wird einem klar, dass es die Abgeordneten des Landtags sind, die diese Entscheidung fällen“, betont Lies. Das habe bei ihm „großen Demut und Respekt“ ausgelöst. Lies lächelt, eilt weiter – denn dieser 20. Mai im Parlament ist für ihn auch ein hektischer Tag, und das Protokoll bestimmt die Abfolge der Termine.

Viel war vorher spekuliert worden. Würde Lies in der geheimen Wahl vielleicht nicht alle Stimmen der rot-grünen Koalition bekommen? Immerhin hatten dem neugewählten Chef der SPD-Fraktion, Stefan Politze, am Vortag bei seiner Wahl am Ende mehrere Stimmen gefehlt. Zwei Abgeordnete waren nicht in der Sitzung, vier waren gegen Politze und zwei hatten sich enthalten. Würde das ein schlechtes Omen für die Lies-Wahl sein? Oder würde im Gegenteil Lies nun, zumal er oft als „Menschenfischer“ bezeichnet wird, Unterstützung aus der CDU oder vielleicht sogar aus der AfD erhalten? Gerade mit vielen in der CDU kann der neue Ministerpräsident sehr gut, so war gemutmaßt worden, die Sympathie könne sich womöglich gar in Zuspruch bei der Wahl äußern. Am Ende ist dann jedoch alles unspektakulär. 81 Stimmen haben SPD und Grüne im Landtag, 65 auf der anderen Seite CDU und AfD. Bei den Grünen und bei der CDU war je ein Parlamentarier entschuldigt abwesend – und für die erfolgreiche Wahl musste Lies mindestens 74 Stimmen bekommen. Als Landtagspräsidentin Hanna Naber um 13.40 Uhr das Ergebnis verkündet, sind es 80 Stimmen für Olaf Lies. Rein rechnerisch also liegt die Vermutung nahe, dass alle anwesenden Abgeordneten von SPD und Grünen für ihn gestimmt haben – und alle von CDU und AfD nicht. Mit dem Resultat kann der neue Ministerpräsident genauso gut leben wie der Oppositionsführer Sebastian Lechner. Lies und Lechner scheinen beide ihre Reihen fest geschlossen zu haben, Zerfallserscheinungen werden an diesem Tag nicht sichtbar.

Die Ehrengäste (von links): Christian Wulff, Gerhard Schröder und seine Frau So-yeon Schröder-Kim. | Foto: Link

Also ein Regierungswechsel ganz nach Routine? Es ist die Festlichkeit, die diesen 20. Mai im Landtag zu einem besonderen Tag macht. Als Ehrengäste sind Alt-Bundespräsident Christian Wulff und Alt-Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Frau erschienen. Besonders begrüßt werden sie nicht. Schröder wird zunächst von vielen gemieden, dann aber gesellen sich vor Beginn der Sitzung Journalisten um ihn herum und verwickeln ihn in ein Gespräch. Es sei „schön, das eine oder andere bekannte Gesicht zu sehen“, sagt der frühere Kanzler und weicht dann aber auf Bitten seiner Frau zur Seite, als noch mehr Reporter kommen und immer mehr Fragen stellen. Wenig später sieht man, dass die Besucherreihen gefüllt sind mit prominenten Gästen, darunter Bischöfe, Verbandsvertreter, frühere Minister und ehemalige Landtagspräsidenten. Lies‘ Frau und Töchter sind gekommen, auch die dreijährige Enkelin. „Die Familie“, sagt Lies später in einer spontanen Pressekonferenz, gebe ihm Halt und Bodenhaftung. Wenn der Stress sehr groß werde, und die vergangenen anderthalb Monate seien „geprägt gewesen von purer Aufregung“, dann genieße er es, auch Ehemann, Vater oder Großvater zu sein – und mal nichts mit Politik zu tun zu haben. Und was unterscheide ihn, den zwölften Ministerpräsidenten Niedersachsens, von seinem Vorgänger Stephan Weil, dem elften Ministerpräsidenten? Lies spricht zunächst davon, dass er von Weil viel gelernt habe – nämlich den Wert von Ruhe und Verlässlichkeit im Regierungshandeln, da Hektik die Menschen und die Unternehmen verunsichere. Daneben aber habe er „einen anderen Stil“, und Lies kleidet die Antwort sogar in eine Selbstkritik: „Als Ministerpräsident kann man sicher nicht mehr jede Aufgabe im Detail regeln wollen – als Minister geht das vielleicht noch.“

Tatsächlich steht auch dieser Tag im Parlament noch im Zeichen des Weil-Abschieds, der von der SPD und der Landesregierung gefühlt schon seit mindestens einer Woche täglich zelebriert wird. Zu Beginn würdigt Landtagspräsidentin Naber den bisherigen Regierungschef, den es „nie in die Bundespolitik gedrängt“ habe, da ihm „die Heimat Niedersachsen stets näher als Berlin“ gewesen sei. In seinen Reden sei Weil „nie verletzend“ gewesen, das verdiene eine ganz besondere Anerkennung. Dann wendet sich Weil selbst an die Landtagsabgeordneten und Gäste. In den vergangenen Monaten habe er „zunehmend Zweifel gehabt, ob ich den hohen Anforderungen, die dieses Amt mit sich bringt, noch gerecht werden kann“, meint Weil. Zu Beginn seiner Landtagszeit 2013 sei er „beeindruckt vom harten politischen Nahkampf“ im Parlament gewesen – aber das habe sich bis heute tatsächlich geändert, auch mit der oppositionellen CDU gebe es „eine gute Partnerschaft“. Die AfD indes schließe er hier aus, denn mit „Ausländerfeindlichkeit und völkischer Überheblichkeit“ könne er sich nicht arrangieren. Diese Haltungen lehne er „aus tiefster Überzeugung ab“, betont Weil.

Stephan Weil (Mitte) wird im Landtag mit großem Applaus verabschiedet. | Foto: Link
Landtagspräsidentin Hanna Naber (links) vereidigt Olaf Lies. | Foto: Link

Nach dem Ende von Weils Rede erheben sich alle Abgeordneten und klatschen, auch die Ehrengäste auf der Besuchertribüne und in den Logen schließen sich an. Nur die der AfD-Abgeordneten bleiben sitzen, aus ihren Reihen wird nur vereinzelt ein wenig applaudiert. Kurz darauf folgt dann die Wahl des Nachfolgers, die Auszählung und die Bekanntgabe des Ergebnisses: 80 Ja-Stimmen, 63 Nein-Stimmen – ein Stimmzettel war ungültig. Minutenlang wird Lies in den Reihen der SPD-Fraktion gefeiert, umarmt viele Abgeordnete und nimmt Glückwünsche entgegen. Auch Oppositionsführer Lechner drückt der neue MP an sich – nicht aber den AfD-Fraktionsvorsitzenden Klaus Wichmann. Dessen Blumenstrauß zu Ehren des neuen Regierungschefs ist dann aber doch etwas größer als der von der CDU, und der von der CDU wiederum scheint größer als die Sträuße von SPD und Grünen. Nach der Serie von Glückwünschen tritt Lies ans Pult und nennt seine Ministerliste. Diese wird kurz darauf vom Landtag in offener Abstimmung bestätigt – mit Ja-Stimmen von SPD und Grünen gegen das Nein von CDU und AfD. Es folgen die Übergabe der Entlassungsurkunde an die bisherige Europaministerin Wiebke Osigus und die Ernennungsurkunden für zwei neue Minister – Melanie Walter (Europa) und Grant Hendrik Tonne (Wirtschaft). Zwei Stunden später dann schließt sich daran die Vereidigung des neuen Lies-Kabinetts im Landtag an. Jeder tritt nach vorn und schwört, die Gesetze zu achten und die Kraft zum Wohle des Volkes einzusetzen. Den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ fügt Lies an – mit ihm auch fast alle anderen Minister. Nur drei verzichten auf religiösen Bezug – Daniela Behrens (Inneres), Andreas Philippi (Soziales) und Gerald Heere (Finanzen).

Mit der Regierungserklärung klingt der Tag aus – festlich, nicht ohne Anspannung, aber am Ende doch unspektakulär.

Dieser Artikel erschien am 21.5.2025 in Ausgabe #094.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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