Das Besondere an dem Buch, das drei leitende Beamte des Niedersächsischen Landesarchivs jetzt herausgegeben haben, ist die Breite der Autorenschaft: Da haben 43 Mitarbeiter der Behörde in ihren unterschiedlichen Standorten und Abteilungen zur Feder gegriffen und relativ kurze, schnell lesbare Beiträge verfasst zu verschiedenen Stationen der Vergangenheit des Landes. Verbunden wird das jeweils mit bestimmten Urkunden, Fotografien, Karten oder anderen Dokumenten – und im Ergebnis sind 75 einzelne kleine Geschichten entstanden, die jeweils auf ein spezielles historisches Ereignis hinweisen. Oder auch, wie sich mitunter ergibt, auf landsmannschaftliche Besonderheiten, die irgendwann einmal kräftig gelodert haben und jetzt immer noch glimmen. Niedersachsen, das spürt man beim Lesen, mag inzwischen, ein Dreivierteljahrhundert nach der Entstehung, zu einem Land mit Landesbewusstsein verschmolzen sein – auf jeden Fall aber besteht es aus einer großen Breite an verschiedenen Erscheinungsformen und Mentalitäten.

Womöglich passt diese Darstellungsweise zur Zeit, denn kein dicker Geschichtswälzer ist entstanden, der ausführlich die verschiedenen Details der Entwicklung des Landes nachzeichnet. Vielmehr werden Schlaglichter geworfen auf einzelne, teilweise kuriose Ereignisse. Das zwingt den Leser nicht, sich für die Lektüre viel Zeit zu nehmen oder angestrengt über Wochen allabendlich Kapitel für Kapitel zu bearbeiten. Man kann ein paar Abschnitte konsumieren und dann wieder eine Pause einlegen. Was den einzelnen Beiträgen manchmal vielleicht fehlt, ist eine analytische Tiefe und Einordnung in die Bedeutung der jeweiligen Zeit. Schlaglichtern eigen, bleiben die Übergänge verschwommen und trüb.
An einigen Stellen klingt die Sprache auch zu sehr nach Verwaltung, zu wenig empathisch. Auf der anderen Seite sind die meisten Beiträge aber so verfasst, dass man schnell einen Eindruck bekommen kann von den besonderen Bedingungen und Umständen der jeweiligen Epoche. Nun steht nicht jeder der 75 Abschnitte für genau ein Jahr in der 75-jährigen Landesgeschichte. Das wäre auch zu schematisch geworden. Die Autoren haben bedeutsame Ereignisse mit weniger wichtigen kombiniert, sie haben Wegweisendes mit Kuriosem verknüpft.
Der Blick wird zum Anfang auf die Gründung des Landes gerichtet, als Hinrich-Wilhelm Kopf, unterstützt vom Raumplaner Kurt Brüning, die Bildung eines Landes aus den alten Gliederungen Hannover, Oldenburg und Braunschweig vorantrieb – gegen seinen Parteifreund Kurt Schumacher, der für eine größere Lösung eingetreten war. Kopf hatte zwar noch Lippe und Teile von Westfalen auf seiner Liste, was er am Ende nicht durchsetzen konnte. Aber als geschickter Politiker konnte er obsiegen gegenüber alternativen Oldenburger Plänen, einen Weser-Ems-Staat aus Oldenburg, Ostfriesland, Bremen und Osnabrück zu formen. Auch gegenüber Schumacher, der Niedersachsen und Schleswig-Holstein vereinen wollte, dominierte Kopf.
Im Buch wird die Rolle von Kopf, der im NS-System belastet gewesen sein soll, durchaus distanziert bewertet – nicht zuletzt auch gegenüber seinem Nachfolger Heinrich Hellwege von der Deutschen Partei, der zwar weniger bekannt und profiliert war, selbst auch viel kürzer in der Staatskanzlei saß, aber der als überzeugter Welfe der entschiedenere Vorantreiber der Bildung Niedersachsens gewesen sei. Spannend sind die Schilderungen über die ersten Überlegungen der Raumplaner, die industrielle Zentren gleichmäßig über das Land verteilen wollten – unabhängig von den Produkten und Wirtschaftsströmen, noch streng nach Kriterien einer staatlichen Planwirtschaft ausgerichtet.
Hochinteressant, weil fast vergessen, sind die Schilderungen des Aufstandes der Arbeiter etwa in Salzgitter gegen die Demontagepläne der britischen Militärregierung, die sogar eine – wohl taktisch motivierte – Solidaritätsaktion der DDR auslösten. Es geht dann um heftige lokale Konflikte etwa um den Schutz der Gemeinde Schulenberg vor dem Bau der Oker-Talsperre, um den Prozess gegen den NS-Aktivisten Ernst-Otto Remer, der die Teilnehmer des Widerstandes beleidigt hatte, oder auch in späteren Jahren um Trauerbekundungen für den ermordeten Benno Ohnesorg, der aus Hannover kam und dessen Tod nicht nur die Studentenbewegung prägen sollte. Kuriositäten aus der Gebietsreform werden erläutert, etwa die Macht eines Konzerns, der – gegen Bürgerproteste – den Namen „Georgsmarienhütte“ für eine neugeschaffene Kommune durchsetzen konnte.
Zum Teil gelang das wohl auch deshalb, weil in den Wort Georg und Marie auftauchen, die Vornamen des letzten hannoverschen Königspaars. Die Merkwürdigkeiten der Volksabstimmungen in Schaumburg-Lippe und Oldenburg zum Austritt aus Niedersachsen 1975 werden geschildert: Das Quorum wurde erreicht, in beiden Fällen war die überwiegende Mehrheit der Bürger dafür – aber auf Bundesebene wurde die Umsetzung hintertrieben. Das Thema erstickte in der fruchtlosen Debatte über eine Neugliederung des Bundesgebietes. Bei manchen Beschreibungen, etwa zum Radikalenerlass im öffentlichen Dienst, hätte man sich eine distanziertere Betrachtung, etwa zur kommunistischen DKP, gewünscht. In anderen Fällen, so im Kapitel zur Orientierungsstufe, hätte man sich mehr Details über die politischen Verwicklungen gewünscht.
Alles in allem ist das Buch ein sehr gelungener Beitrag zum Landesgeburtstag geworden.