256 Menschen warten im Gefängnis auf Maßregelvollzug
In der niedersächsischen Justiz knirscht es an allen Ecken und Enden. Das wird erneut aus Zahlen des Justizministeriums deutlich, die der Antwort auf eine Anfrage des FDP-Abgeordneten Marco Genthe zu entnehmen sind. Genthe wollte unter anderem wissen, wie viele Menschen in den vergangenen Jahren in „Organisationshaft“ gewesen sind.
Dabei handelt sich um Straftäter und psychisch Kranke, die im Gefängnis auf einen Platz im Maßregelvollzug warten. Im Vergleich zu 2016 ist die Zahl der Menschen in Organisationshaft um mehr als 60 Prozent gestiegen. Betraf es 2016 noch 158 Gefangene, so waren es 2019 insgesamt 256. Die Dauer der Organisationshaft werde dabei statistisch nicht erfasst, heißt es aus dem Justizministerium.
Gerade bei den Menschen, die im Gefängnis abwarten müssen, ist das eine Art Aufbewahrung. Das entspricht nicht rechtsstaatlichen Gepflogenheiten.
Zuvor hatten Medien bereits darüber berichtet, dass Ende Dezember vergangenen Jahres fast 80 verurteilte Straftäter und psychisch Kranke in Freiheit auf einen Platz im Maßregelvollzug warten. Das betrifft auch Menschen, bei denen dieser Vollzug bereits 2017 und 2018 angeordnet worden war. Genthe spricht von einem massiven Problem für den Rechtsstaat. „Gerade bei den Menschen, die im Gefängnis abwarten müssen, ist das eine Art Aufbewahrung. Das entspricht nicht rechtsstaatlichen Gepflogenheiten“, sagt der FDP-Politiker im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Seiner Meinung nach hätte die Landesregierung schon längst handeln müssen, schließlich sei das Problem nicht einfach und schnell zu beheben. Es sei allein schon sehr schwierig, genügend Psychiater und Pflegekräfte zu finden.
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Die angespannte Situation in der Justiz wird auch durch die Zahl der Überlastungsanzeigen deutlich, die bei den Behördenleitungen der Staatsanwaltschaften und Gerichte eingehen, wenn zum Beispiel durch länger erkrankte Kollegen die Arbeit nicht mehr zu bewältigen ist. Die Zahl der Überlastungsanzeigen hat sich seit 2016 mehr als verdoppelt. Im Jahr 2016 gab es laut Justizministerium insgesamt 50 Überlastungsanzeigen, im vergangenen Jahr waren es 112. Allein 45 Anzeigen gingen im Bezirk des OLG-Bezirks Braunschweig ein. Hier hat vor allem der Komplex um Volkswagen dazu geführt, dass „die Staatsanwaltschaft an ihrer Belastungsgrenze arbeitet“, wie es in der Antwort des Ministeriums heißt. 36 Anzeigen gab es im OLG-Bezirk Celle.
Darüber hinaus hat es dem Ministerium zufolge auch mündliche Überlastungsanzeigen an die Behördenleitungen gegeben, die statistisch nicht erfasst worden seien. Das Ministerium verneinte die Frage des Abgeordneten, ob Anzeigen durch die Generalstaatsanwaltschaften oder eine andere Behördenebene gestoppt worden seien. „Die Abfrage des staatsanwaltschaftlichen Geschäftsbereichs hat ergeben, dass die Generalstaatsanwaltschaften oder andere Behördenebenen keine Überlastungsanzeigen ‚stoppen‘“, heißt es in der Antwort. Dem Justizministerium zufolge muss berücksichtigt werden, dass es an einer klaren Definition der „Überlastung“ fehle und überdies keine Zeiterfassung stattfinde. Sie würde es ermöglichen, einen erhöhten beziehungsweise zu hohen Arbeitsanfall einfacher zu verifizieren. Im Falle einer Überlastungsanzeige überprüfe die Behörden- oder Geschäftsleitung die Belastungssituation in der Organisationseinheit und schaffe bei Bedarf Abhilfe, heißt es in der Antwort.
Genthe regt Ombudsstelle für Richter und Staatsanwälte an
Angesichts der Situation in der Justiz plädiert Marco Genthe dafür, über eine Ombudsstelle für Richter und Staatsanwälte nachzudenken. Das Ministerium sei über die Lage offensichtlich nicht vollständig informiert. Das zeige sich daran, dass viele Fragen – zum Beispiel die nach der Zeitspanne zwischen einem Urteil und der Unterbringung im Justizvollzug – nicht beantwortet werden konnten. „Es braucht eine zusätzliche neutrale Person, die für Aufklärung sorgt“, meint Genthe. Im Justizministerium ist man dagegen der Meinung, dass einer solchen Ombudsstelle die notwendigen Kenntnisse der örtlichen Strukturen fehlen würden. Zudem könne die richterliche Selbstverwaltung beeinträchtigt werden. „Die Einschätzung der Belastungsentwicklung gehört zum Kernbereich der Aufgaben der Verwaltung der Gerichte und Staatsanwaltschaften“, heißt es in der Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Genthe. Zudem stünden den Bediensteten bereit eine Vielzahl vertrauensvoller Ansprechpartner zur Verfügung.