13. Nov. 2015 · 
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Zum Tage: Düstere Prognose

(rb) Die rechnerische Unterrichtsversorgung an den Schulen war schon immer ein Gradmesser für die Arbeit des Kultusministeriums in Niedersachsen und anderswo. Zugleich ließ dieses Instrument noch nie korrekte Aussagen zum tatsächlichen Stundenausfall zu. Dennoch gilt, dass mit der Personalausstattung von Schulen Wahlen zwar nicht gewonnen, aber doch verloren werden können. Angesichts der jüngsten schulpolitischen Verwerfungen stellt sich die Frage, ob diese Erkenntnis bei den rotgrünen Koalitionären in Niedersachsen präsent ist. Auf das Menetekel „97 Prozent Unterrichtsversorgung an den Gymnasien“, das ein kleiner selbstbewusster Verband von Elternvertreter/innen jetzt mit einer Abfrage zum Stundenausfall unter seinen Mitgliedern beschworen hat, reagierten SPD und Grüne inklusive Kultusministerin Frauke Heiligenstadt sichtlich gereizt. Im Landtagsplenum rückten sie die Elternräte an den Gymnasien kurzerhand in die Nähe von Lügenbolden und Unruhestiftern und warfen der Landtagsopposition von CDU und FDP Panikmache vor. Anzeichen für Korrekturwillen gibt es im Regierungslager nicht. Die Parole lautet offenbar „Weitermachen“ – obwohl es in den vergangenen zehn Jahren keinen derartigen Erdrutsch in der Unterrichtsversorgung gegeben hat, wie ihn die Kultusministerin innerhalb von gut zweieinhalb Jahren allein an den Gymnasien von 102,9 auf 99,5 und aktuell auf 99 Prozent produziert hat. „So viele falsche Entscheidungen, das muss man erst einmal hinkriegen“, sagte der Schulexperte der CDU-Landtagsfraktion Kai Seefried jetzt im Landesparlament. Falsch oder richtig – das liegt im Auge des Betrachters. Aus Sicht von SPD und Grünen läuft alles wie geplant: Heiligenstadt arbeitet seit ihrem Amtsantritt im Februar 2013 mit voller Rückendeckung der Regierungsfraktionen systematisch an der Aufwertung der Gesamtschulen, die mit der Demontage der Gymnasien einhergeht. Zu ihren ersten Amtshandlungen gehörte, die geplante G8-Einführung an den Gesamtschulen quasi in letzter Minute abzuwenden, die Hürden für die Errichtung neuer Gesamtschulen zu senken sowie angehenden Gymnasiallehrkräften zu ermöglichen, ihr gesamtes Referendariat an einer Gesamtschule zu absolvieren. Ein „Dialogforum“ zum neuen G9 wurde u.a. dafür genutzt, Gymnasien gesamtschulkompatibler zu machen und letzteren noch ein wenig Vorsprung zu verschaffen, indem die Rückkehr zum Abitur nach neun Jahren an den Gymnasien erst im laufenden Schuljahr 2015/16 vollzogen wurde. Seit dem Schuljahr 2013/14 bekommen die Gymnasien Lehrerstellen zugewiesen, die noch nicht einmal dafür ausreichen, die pensionierten Kräfte zu ersetzen. Mindestens 600 Stellen wurden an dieser Schulform allein in den ersten beiden rotgrünen Schuljahren gestrichen, hat die Opposition errechnet. Zusätzlich mussten die Gymnasiallehrer/innen im Schuljahr 2014/15 eine Stunde mehr arbeiten, was zum Klassenfahrtenboykott führte und in der Folge landesweite Proteste von Eltern, Schüler/innen und Verbänden auslöste, an denen sich sogar die GEW beteiligte, die bis dahin mit der rotgrünen Schulpolitik sehr zufrieden sein konnte. Das Oberverwaltungsgericht kassierte die einseitige Mehrarbeit. Die Kultusministerin hat zur Kompensation 740 Vollzeitlehrereinheiten locker gemacht, was die drastische Absenkung der Unterrichtsversorgung an den Gymnasien nicht wettmachen kann. Hinzu kommt, dass der Umgang der Ministerin mit den Lehrkräften nachwirkt. Viele von ihnen machen mittlerweile Dienst nach Vorschrift – zumal sich Heiligenstadt nach wie vor weigert, über Arbeitszeiterfassung und eine entsprechende Neudefinition der Lehrerarbeitszeit gerade auch an Gymnasien zu sprechen. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wahrscheinlich, dass der Verband der Gymnasial-Elternräte Recht behalten wird mit seiner aktuellen Schätzung von 97 Prozent Unterrichtsversorgung. Möglich sind noch schlechtere Werte. Im Dezember, vielleicht aber auch erst im Januar, will die Kultusministerin „ihre“ Zahlen vorlegen. Diese lassen sich allerdings nicht mehr mit den Daten aus den Jahren davor vergleichen, da Heiligenstadt seit dem Winter 2014 nur noch einmal im Jahr, anstatt zu jedem Halbjahr die Unterrichtsversorgung an den allgemeinbildenden Schulen erheben lässt und dabei ein „Prognosemodul“ zur „behördeninternen Planung“ von Einstellungsverfahren einsetzt. Wäre es nicht erhellender für alle Seiten und auf jeden Fall schneller, wenn fortan ein Elternteil pro Klasse an jeder Schule in Niedersachsen dem Beispiel der Gymnasial-Elternräte folgen und Strichlisten führen würde über den Unterrichtsausfall ihres Kindes? Die Summen dieser Stunden könnten nach Fächern gegliedert an jedem Monatsende direkt ins Kultusministerium gemeldet und dort in die „Prognose“ einfließen, die jeden Monat im Internet veröffentlicht wird. Meine Ausfallbilanz für die ersten vier Tage dieser Woche an einem hannoverschen Gymnasium umfasst zwei Stunden (Mathe) in der 5. Klasse und drei in der 9. Klasse (Englisch und Erdkunde). bri
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #210.
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