Sie hatte Großes vor – und wollte zeigen, dass sie es kann. Wer in einer Großstadt eine größere Ratsfraktion führt, braucht schon genügend Zeit dafür. Nicht jeder Job lässt sich damit vereinbaren. Aber Birgit Albrecht, die Vorsitzende der CDU-Fraktion im Rat der Stadt Hameln, ließ sich trotzdem auf das Wagnis ein. Sie leitet die Grundschule in Rohrsen, kein einfacher Job. Nebenher ist da noch die Kommunalpolitik, und beides füllt ihr Leben ziemlich stark aus, in jüngster Zeit kostet die Politik weitaus mehr Kraft als früher.

„Ich stoße schon an meine Grenzen“, meint Albrecht. Denn in Hameln ist etwas zu beobachten, das seit der Kommunalwahl 2016 verstärkt in vielen niedersächsischen Kommunen auftritt – und das sich in größeren Kommunen zur richtigen Belastung auswachsen kann: Es gibt im Rat der Stadt derzeit zehn verschiedene Gruppierungen, einige bestehen nur aus einer einzigen Person. Die Mehrheitsbildung ist keineswegs vorgegeben, vielmehr sind für jede neue Entscheidung aufwendige Absprachen erforderlich.

Birgit Albrecht, Dirk Ulrich Mende und Jörg Nigge – Fotos: CDU Hameln, NST, Stadt Celle

Was heißt das praktisch? Albrecht spricht von Fraktionssitzungen, interfraktionelle Arbeitskreisen, Runden Tischen, Terminen mit der Stadtverwaltung und spontanen Treffen am Rande von Rats- und Ausschusssitzungen. „Die Vielfalt ist bereichernd“, sagt die engagierte Frau, die gern mit Leuten redet und verhandelt. Aber für etwas komplexere Vorhaben wie die Umgestaltung des Weserufers heißt das dann schon, dass bis zur Klarheit im Rat ganz viele kleine Kompromisse geschlossen werden müssen, oft mit einzelnen, die jeweils eigene Interessen berücksichtigt sehen möchten. Und wenn die Gruppe aus SPD, Grünen und Linken keine Mehrheit findet, kommt die CDU ins Boot.

„Es ist am Ende gelungen“, sagt Albrecht zufrieden. Wilfried Binder, ihr SPD-Kollege, erinnert sich an die Frage, ob man beim Schulzentrum Nord einen Generalunternehmer zwischenschalten oder die Einzelgewerke je für sich ausschreiben sollte. Der zweite Weg wurde gegangen, nach durchaus etwas zäheren Gesprächen. Aber weder Binder noch Albrecht stöhnen unter den Verhältnissen, beide begreifen das als Herausforderung – und sehen ihre Stadt auf gutem Weg.

Gefahr steigender Politikmüdigkeit

Aber ist das überall und jederzeit so? In den wenigsten Städten und Kreisen sind in den vergangenen Jahren wirklich schwierige Entscheidungen gegen Proteste gefällt worden. Die Finanzen waren fast überall geordnet, die Steuerquellen sprudelten, Sparprogramme waren oft nicht nötig. Da fiel nicht weiter ins Gewicht, wie zersplittert die politische Landschaft vielerorts ist. Zu nennen wären hier jetzt vier größere Städte, in denen jeweils zehn Gruppierungen im Rat sitzen: Neben Hameln sind es Celle, Delmenhorst und Oldenburg. Dirk-Ulrich Mende, ehemaliger Celler Oberbürgermeister und jetzt Geschäftsführer des Städtetages, sieht in diesen Verhältnissen die Gefahr einer steigenden Politikmüdigkeit: Man könne sich immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigen, außerdem neigten viele kleine Gruppierungen dazu, einmal entschiedene Fragen immer wieder erneut auf die politische Tagesordnung zu stellen. Das koste Zeit und Nerven.

Ich stoße schon an meine Grenzen.

Als „ungerecht“ empfindet Mende diese Situation deshalb, weil das Auszählsystem nach Hare/Niemeyer die kleinen Parteien unangemessen begünstige. Die Freien Wähler in Delmenhorst hätten nur 931 Stimmen für einen Sitz im Rat benötigt, die CDU für ein Mandat aber 1870 Stimmen. In Oldenburg habe die SPD für jedes ihrer Mandate 4250 Stimmen gebraucht, die Piraten aber nur 2450 Stimmen. Mende befürchtet, die Tücken dieses Systems könnten sich „herumsprechen“: Als Einzelbewerber könne man es unter Umständen viel einfacher haben als auf der Liste einer größeren Partei, das sei geradezu eine Einladung an Menschen, außerhalb gängiger Strukturen ihren Erfolg zu suchen. Weil jede aus mindestens zwei Mitgliedern bestehende Fraktion auch Anspruch auf ein Mandat im Haupt- oder Verwaltungsausschuss hat, drohen diese Ausschüsse zudem viel zu groß zu werden – und damit als Steuerungsinstrument für die politischen Entscheidungen entwertet zu werden.

Die Kommunalverbände haben wegen dieser Zustände schon vor Jahren gefordert, zu dem Auszählverfahren nach d’Hondt zu wechseln – dann würden kleine Gruppierungen weniger stark begünstigt. Mende geht noch weiter, er stellt sich eine Drei-Prozent-Hürde für Kommunalvertretungen vor: Jede Gruppierung, die unterhalb dieser Schwelle bleibt, würde draußen bleiben. Wenn nicht drei Prozent, dann solle aber als Untergrenze wenigstens die Zahl der Stimmen festgelegt werden, die für das Erreichen eines ganzen Sitzes nötig wäre. Zustimmung erfährt der Geschäftsführer des Städtetages von seinem Nachfolger in Celle, Oberbürgermeister Jörg Nigge (CDU): „Eine Prozenthürde bei Kommunalwahlen kann dazu führen, dass wir Entscheidungen wieder schneller treffen können und der politische Prozess nicht stagniert.“

Eine Prozenthürde bei Kommunalwahlen kann dazu führen, dass wir Entscheidungen wieder schneller treffen können und der politische Prozess nicht stagniert.

In vielen Kommunen ist allerdings zu beobachten, dass sich die Akteure – ähnlich wie in Hameln – mit den Verhältnissen arrangieren. Deniz Kurku, der für die SPD im Rat von Delmenhorst arbeitet, sieht zwar die Mühseligkeit der Mehrheitsbildung, erkennt aber „eine erstaunliche Geschlossenheit im Rat immer dann, wenn es um wirklich wichtige Dinge geht“. Bei der Ausweisung neuer Baugebiete sei das so gewesen, auch beim Abriss des umstrittenen „Wollepark“. Hier zahle sich die gute Moderatorenleistung des Oberbürgermeisters aus.

Aus Oldenburg hört man ähnliche Berichte. Ulf Prange, SPD-Fraktionschef im Rat, sieht sich in einer komfortablen Situation: Bei der Schließung der Förderschule oder bei den Plänen für ein neues Baugebiet auf dem alten Fliegerhorst war man sich rasch mit den Grünen einig, in vielen Haushaltsfragen dann eher mit der CDU. Es werde viel offen diskutiert, damit steige bei sehr vielen Menschen das Bewusstsein für die Bedeutung der Inhalte. Esther Niewerth-Baumann, die für die CDU im Rat sitzt, zeigt sich auch „erstaunt, wie gut das alles trotz der chaotischen Mehrheitsverhältnisse klappt“.

„Verschieberitis“ bei wichtigen Vorhaben

Allerdings habe die CDU beim jüngsten Haushaltsbeschluss als Gegenleistung einen „Letter of intent“ verlangt: „Es geht jedenfalls nicht, dass die SPD uns für die unangenehmen Entscheidungen braucht und alle anderen Inhalte dann mit den Grünen abklärt.“ Einer derjenigen, die in der Vielfalt kommunaler Gruppen auf jeden Fall einen großen Vorteil sehen, ist der Oldenburger Linken-Politiker Hans-Henning Adler, ein alter Hase in der Kommunalpolitik: „Ohne feste Koalitionen kommt es auch nicht so sehr auf die Fraktionsdisziplin an. Ich sehe das ausgesprochen positiv: Im Rat kann es noch gelingen, mit guten Argumenten einzelne Mandatsträger zu überzeugen und Mehrheiten zu bilden. In Oldenburg erleben wir das schon seit vielen Jahren – und ich finde das gut.“

Auch aus Oldenburg kommt allerdings eine kritische Einschätzung, von Oberbürgermeister Jürgen Krogmann (SPD). Zwar leide die Kommunalpolitik in seiner Stadt nicht unter der Vielzahl der Gremien, betont er, aber Nachteile erkenne er schon: Da im Rat die eigentlich gute Sitte herrsche, bei Bedenken nur einer Gruppierung wichtige Vorhaben noch einmal aufzuschieben, bemerke er eine „Verschieberitis“, die der Stadtentwicklung nicht gut tue. Daher rät auch Krogmann, wie die Kommunalverbände, zum Auszählverfahren nach d’Hondt zu wechseln.  (kw)