25. Aug. 2019 · 
Inneres

"Wutbürger“ bleiben dem Landtag fern

Eigentlich war dieser Tag im Leben von Boris Pistorius, Niedersachsens Innenminister, ein ganz besonderer. Der Vorstand der niedersächsischen SPD sollte ihn einstimmig nominieren für ein Amt, das einst August Bebel und Willy Brandt innehatten – das des Vorsitzenden der traditionsreichen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. So geschah es dann auch. Aber viel Gelegenheit, die Freude darüber still zu genießen, hatte der 59-Jährige am vergangenen Sonnabend nicht. [gallery columns="8" link="file" ids="42766,42769,42770,42773,42772,42768,42771,42767"] Denn die versammelte landespolitische Prominenz war gefordert wie selten zuvor, der Landtag hatte – nach fünf Jahren Pause – wieder zu einem „Tag der offenen Tür“ eingeladen. Das erste große Event dieser Art übrigens, seit der neue Plenarsaal im Herbst 2017 eröffnet wurde. Und so mussten auch die niedersächsischen SPD-Spitzen hier ihr Gesicht zeigen, einschließlich Pistorius. https://www.youtube.com/watch?v=FiMAzsTM3vo&t=6s Ein anstrengendes Unterfangen wurde das. Denn die Spitzenpolitiker erlebten einen wahren Ansturm an Interessierten. Als Landtagspräsidentin Gabriele Andretta um 10 Uhr die Türen am großen Hauptportal öffnete, standen schon die ersten Besucher Schlange. Bis zum Abend riss das nicht ab. Ist es spezielles Interesse an der Arbeit der Landtagsabgeordneten? Oder vielmehr Interesse von politisch interessierten Menschen, die ihren Ärger oder ihre Vorschläge zu Detailfragen einfach mal bei „den Politikern“ abladen wollen? Manchmal schien es, als sei das zweite überwiegend gewesen. CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer beispielsweise war eingesprungen, um den entschuldigten Wissenschaftsminister Björn Thümler bei einer „Bürgersprechstunde“ zu vertreten. Doch wenn er gemeint haben sollte, nun würde er mit hochschulspezifischen Fragen konfrontiert, dann täuschte er sich – die Bürger wollten etwas zu Verkehrszeichen in der Innenstadt wissen und zu Radwegen in Wäldern. Wichtige Themen fürwahr, nur eben keine Fragen der Wissenschaftspolitik.

Nachfragen bei Straßenausbaubeiträgen, Klimaschutz und Pflegekammer

Überall war der Andrang sehr groß, in manchen engen Gängen besonders. Als Ministerpräsident Stephan Weil am Morgen zur Fragerunde in den SPD-Fraktionssaal einlud, ging es wieder wohlbekannte emotional aufgeladene Dauerbrenner. Warum schafft das Land die Straßenausbaubeiträge nicht ab? Weil sagt, das solle – wie bisher – in der Hand der jeweiligen Kommune liegen, dieses Thema zu regeln. Warum geht es mit dem Klimaschutz nicht weiter? Weil sagt, der Bund müsse die Förderung der erneuerbaren Energien verstärken. Warum wird die umstrittene Pflegekammer nicht aufgelöst? Weil sagt, diese Einrichtung habe einen Fehlstart hingelegt, nun aber müsse es im gemeinsamen Interesse um bessere Bedingungen für die Pflegekräfte gehen, dafür sei die Kammer wichtig. https://www.youtube.com/watch?v=JvUpafI9Hes&t=3s Auch Pistorius, seit diesem Tag nun der Niedersachsen-Kandidat für den SPD-Parteivorsitz, präsentiert sich vor Publikum im SPD-Fraktionssaal. Wie er den bevorstehenden Stress der SPD-Kandidatenkür (es gibt 23 Regionalkonferenzen der Partei!) bewältigen könne, wird der Innenminister gefragt. „Wenig Alkohol, viel Bewegung, vernünftiges Essen und Dankbarkeit für die Gabe, gut schlafen zu können.“ Auffällig ist, dass sowohl Weil, der Ministerpräsident, als auch Pistorius, der aufstrebende Minister, regelrecht ins Schwärmen geraten, wenn sie über ihre Zeit als Oberbürgermeister (in Hannover, beziehungsweise Osnabrück) sprechen. Dass sie gern daran zurückdenken, dort bestimmte Projekte geschaffen zu haben, die man heute noch sehen kann. Ist das eine Sehnsucht zurück in die guten alten Zeiten, als auch die SPD viel stärker und stabiler war als heute?

Wutbürger“ blieben die Ausnahme

Immerhin bleibt nach dem Besuchertag im Landtag vermutlich in allen Lagern ein positives Gefühl. Ob SPD und CDU, Grünen und FDP – alle erlebten ein starkes Interesse, überall wurde politisch diskutiert. Dass einzelne „Wutbürger“ ausfällig wurden und schimpften, blieb die große Ausnahme. Auch das Mega-Thema der drei vergangenen „Tage der offenen Tür“ 2014, 2009 und 2007, der notwendige Umbau des alten Plenarsaals, war jetzt kein Thema mehr. Das Projekt ist abgeschlossen, der schöne neue Bau ist fertig – niemand nimmt Anstoß daran. Eher ist es das schon für manche Teilnehmer, auch für die der konkurrierenden Parteien, ein großes Ärgernis, dass sich gerade die AfD bei diesem Besuchertag an einer zentralen Stelle präsentieren konnte, direkt in Eingangsnähe. Dort wurden einige Kaffeetassen mit anstößigen Sprüchen verteilt, und vor dem Gebäude wollte die Partei ein Transparent enthüllen, was die Polizei verhinderte. Doch die große Provokation, die den Protest der anderen heraufbeschworen und das große Gesprächsthema geliefert hätte, ist der AfD an diesem Tag nicht gelungen.
 

So ein ‚Tag der offenen Tür‘ fordert schon sehr starke Nerven.
Mehrere Entwicklungen werden sichtbar bei diesem „Tag der offenen Tür“ im höchsten Haus der Demokratie in Niedersachsen: Erstens haben sehr viele Menschen ein Bedürfnis, die Politiker zu erleben und die Räume, in denen sie wirken. Zweitens sind es kommunale Themen wie die Verkehrsplanung und emotionale Themen wie der Wolf, die Pflegekammer und das Weltklima, die immer wieder von den Bürgern vorgetragen werden. Und drittens brauchen die Politiker eine stark ausgeprägte Geduld, wenn sie auf alle Vorschläge und Hinweise stets ruhig und sachlich reagieren wollen. So ein „Tag der offenen Tür“ fordert schon sehr starke Nerven. Man sieht es auch bei Ministerpräsident Weil selbst. Als der Regierungschef an diesem Tag vor die Journalisten tritt, um die Nominierung von Pistorius zu verkünden und überschwänglich zu loben, wird er von einem beharrlichen Kollegen mehrfach gefragt, warum er nicht viel früher für seinen Innenminister aktiv wurde. Warum habe Weil denn so lange an seiner Variante festgehalten, für sich selbst eine Bewerbung zum Parteichef nicht auszuschließen? Weil wirkt, was selten passiert, von den Nachfragen ziemlich genervt, will sogar beinah die Antwort verweigern. Dass Politik eben ein sehr anstrengendes Geschäft sein kann, merkt man an Tagen wie diesen besonders gut. (kw)  
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #145.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail
Alle aktuellen MeldungenAktuelle Beiträge
Muss die Adresse von Kommunalwahl-Kandidaten auf dem Wahlzettel stehen? Foto: GettyImages/no-limit_picture
Kommunalwahl ist am 13. September 2026
19. Mai 2025 · Klaus Wallbaum1min
Susanne Schmitt (links) forderte mehr Mut in den Bauämtern – und gezielte Förderung für die arbeitende Mitte. | Foto: Link
Neue Spielräume kommen vor Ort nicht an: Baubranche erwartet mehr Mut in den Ämtern
16. Mai 2025 · Christian Wilhelm Link3min
Nach der Steuerschätzung: Heere spricht von einer „sehr ernsten Lage“ der Landesfinanzen
19. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min