„Wir müssen offenlegen, mit welchen Mitteln die Volksverführer arbeiten“
Gerhard Wegner ist seit Februar der neue Beauftragte für das Thema Antisemitismus. Im Interview mit dem Politikjournal Rundblick berichtet er über seine ersten Eindrücke und mögliche Wege, gegen grassierende Judenfeindlichkeit vorzugehen.
Rundblick: Herr Wegner, was hat Sie bei ihren Besuchen bei den jüdischen Gemeinden in Niedersachsen besonders überrascht?
Wegner: Mich hat wirklich betroffen gestimmt, bei wie vielen jüdischen Menschen ein Gefühl der Unsicherheit herrscht. Es ist nicht so, dass alle belästigt würden oder beschimpft werden – aber viele fühlen sich nicht ausreichend geschützt. Es gibt eine Zunahme von antisemitischen Straftaten, etwa Beleidigungen. Und deswegen spüren viele Juden ein gewisses Unwohlsein – vor allem dann, wenn sie sich öffentlich zum Judentum bekennen.
Rundblick: Hat das in der Corona-Zeit zugenommen? Und welcher Richtung sind diese Entwicklungen zuzuordnen?
Wegner: Sicher hat die Corona-Zeit zu einer Verwilderung der Sitten geführt – denken Sie nur an die vielen abschätzigen Äußerungen im Internet. In Deutschland erleben wir eine gewisse Verhärtung der rechtsextremen Szene. In der Summe haben die rechtsextremen Haltungen vermutlich sogar abgenommen, aber der Teil, der sich so verhält, tut es intensiver. Es gibt eine Studie, nach der sich das öffentlich nur deshalb nicht so äußert, weil in Krisenzeiten wie im gegenwärtigen Ukraine-Krieg die Zustimmung zu entschlossenen Politikertypen alles andere überdeckt.
Rundblick: Aber da beleuchten Sie den rechtsextremen Teil des Antisemitismus. Es gibt diesen allerdings auch von links – der äußert sich in der Kritik an der Politik Israels. Wie nehmen Sie das wahr?
Wegner: Die linke Kritik an Israel ist oft antisemitisch geprägt. Aber es kommt noch etwas hinzu. Neulich ist der Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser in Hannover aufgetreten – an der Gegendemonstration war ich beteiligt, und gegen unsere Demonstration gab es wieder eine Gegendemonstration, die uns „Kriegstreiberei“ wegen der Unterstützung der Ukraine vorhielten. Da wurde mir klar, dass es beim Antisemitismus einen gefährlichen Ideologiemix gibt – was nun von links oder rechts kommt, lässt sich schwer unterscheiden. Sahra Wagenknecht zielt ja mit ihrer Bewegung zugleich auf einen Sozialismus und Nationalismus. Ein gefährliches Manöver!
Rundblick: Es ist doch schon lange klar, dass es totalitäre, antisemitische und gefährliche Haltungen sowohl auf der extremen Rechten wie auch auf der extremen Linken gibt. Denken wir etwa an die DKP. Das ist ja nicht neu. Mit welchen Mitteln soll man dagegen angehen?
Wegner: Eine wichtige Aufgabe liegt darin, die Methoden der Volksverführer zu entlarven. Ganser zum Beispiel beginnt mit Erzählungen und stellt Andeutungen in den Raum, ohne diese Gedanken dann zu vollenden. Wenn er es täte, hätte er auch sofort ein Strafverfahren am Hals. Zu solchen Andeutungen, die einige Verschwörungstheoretiker verbreiten, gehört etwa das Gerede von den „toxischen Menschen“. Es wird behauptet, es gebe „giftige Menschen“, denen man sich nicht nähern sollte, weil sie einen sonst gefährden können. Das ist eine antisemitische Grundhaltung.
Rundblick: Beschreiben Sie doch bitte auch mal, wie sie den israel-bezogenen Antisemitismus wahrnehmen, der von linksradikalen Kräften propagiert wird…
Wegner: Diese Form hat in vielen Bereichen den klassischen Antisemitismus ersetzt. Manche behaupten, Israel habe kein Existenzrecht, dieses stehe nur den Palästinensern zu. Andere sagen, die Juden hätten doch den Holocaust erlebt und könnten jetzt nicht mit den gleichen Methoden die Palästinenser behandeln. Abgesehen davon, dass das nicht stimmt, finde ich diese Haltung hinterhältig und fies, weil sie unterstellt, die Juden hätten den Holocaust als Demutsübung über sich ergehen lassen. Die Tatsache ist doch: An den Juden ist in der NS-Zeit ein unvergleichliches Verbrechen verübt worden, und die Überlebenden haben ihr gutes Recht genutzt, einen eigenen Staat zu gründen, damit sie sich in Zukunft verteidigen können. Die gegenwärtige Politik der israelischen Regierung muss man kritisieren, da gibt es viele berechtigte Vorwürfe. Aber Israel das Existenzrecht abzusprechen und den Holocaust zu relativieren, wie es derzeit häufig geschieht, beschwört einen erneuten Holocaust herauf.
„Wir brauchen große Erzählungen, die beeindrucken – und wir brauchen Vorbilder, die für Menschenrechte, Nächstenliebe, Solidarität und Verantwortung stehen.“
Rundblick: Sie haben von der Gefahr einer grassierenden rechtsextremen Haltung gesprochen, die sich gegen Juden wendet. Daneben gibt es, gerade auch in Hochschulen, eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, die stark von Feindseligkeiten gegenüber Israel und den Juden geprägt ist. Geht davon, da es im wissenschaftlichen Raum geschieht, nicht eine viel größere Gefahr aus als von den Stammtischparolen?
Wegner: Wenn eine Linie von den deutschen Kolonialverbrechen in Afrika zum Holocaust gezogen wird, um ihn zu relativieren, ist das in der Tat gefährlich. Aber ich will auf ein Kernproblem unserer Situation hinweisen: Uns geht die Orientierung verloren, wir haben keine breit geteilten sinnstiftenden Erzählungen mehr. Kirchen und Parteien, die lange Zeit ethische Grundlagen geliefert haben, verlieren an Mitgliedern und an Bedeutung. Die Position, dass vor Gott alle Menschen gleich sind, ist nicht mehr unumstritten. Wir brauchen große Erzählungen, die beeindrucken – und wir brauchen Vorbilder, die für Menschenrechte, Nächstenliebe, Solidarität und Verantwortung stehen. Die USA haben uns eines voraus, sie haben Pathos und die Fähigkeit, die Menschen in ihrem Innern zu erreichen. In Deutschland hingegen gibt es, auch in der Erwachsenenbildung, das „Überwältigungsverbot“, wir zwingen uns zu strikter Sachlichkeit und Ausgewogenheit. Deswegen trauen wir uns zu wenig zu Menschen faszinieren zu können – und das ist ein Defizit.
Rundblick: Das Christentum hat ja nun leider auch viele Jahrhunderte lang nicht vorbildlich agiert, sobald es um das Verhältnis gegenüber den Juden ging…
Wegner: Das stimmt. Der christlich motivierte Antisemitismus hat ganz schlimme Entwicklungen begünstigt, und Martin Luther war eine der entscheidenden Gestalten in diesem Zusammenhang. Er hat den Nazis wichtige Vorlagen geliefert. Unsere großen Erzählungen sind immer ambivalent. Aber es geht nicht ohne sie. Es kommt darauf an, wie sie gebraucht werden. Über sie muss dauernd geredet, sie müssen immer wieder neu gedeutet werden. Dieses Dauergerede erhält unsere Freiheit. An etwas anderem kann man sich nicht festhalten.
Rundblick: Was kann man gegen Antisemitismus tun, der von muslimischer Seite gepflegt und verbreitet wird?
Wegner: Da diese Haltung religiös begründet wird, müssen wir darauf setzen, dass die Moscheen selbst das Thema zu ihrem Thema machen. Der Zentralrat der Muslime hat eine Stelle geschaffen, die sich genau damit befasst. Ob da wirklich intensiv an diesem Problem gearbeitet wird, kann ich allerdings nicht sagen – weil ich es nicht weiß. Wichtig ist: Wir brauchen Begegnungen, Menschen müssen sich treffen. Der beste Weg, dumpfe Vorbehalte gegen die jüdische Kultur und gegen Juden abzubauen, ist das Erleben von Juden, die Kommunikation mit ihnen.
„Mir ist es wichtig, viele Begegnungen mit jüdischem Leben und jüdischer Kultur möglich zu machen.“
Rundblick: Welche Wünsche für die Zukunft haben Sie?
Wegner: Mir ist es wichtig, viele Begegnungen mit jüdischem Leben und jüdischer Kultur möglich zu machen. Zwar gibt es in dieser Hinsicht durchaus viele tolle Projekte. Aber mein Eindruck ist: Das meiste spielt sich Bereich der Hochkultur ab und das schließt viele Menschen aus. Es braucht niedrigschwellige Begegnungen! Das Thema gehört in die Fußgängerzonen und Einkaufsmalls. Darum möchte ich mich kümmern.
Dieser Artikel erschien am 06.04.2023 in der Ausgabe #064.
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