Wie Konstantin Kuhle den Sprung an die Spitze der FDP schafft – und fünf Mitbewerber in den Schatten stellt
Als der Parteitag am Sonnabendmorgen beginnt, herrscht eine merkwürdig knisternde Stimmung im großen dunklen Saal der Hildesheimer „Halle 39“. Es könnte heute spannend werden. Zwar war seit Monaten klar: Der bisherige FDP-Landesgeneralsekretär und Göttinger Bundestagsabgeordnete Konstantin Kuhle ist Favorit für den Landesvorsitz der Partei – obwohl er als Generalsekretär an der Niederlage der Freien Demokraten bei der Landtagswahl mindestens mitschuldig war. Aber der 34-jährige Jurist gilt als großes Talent in der Partei.
Dann gingen Wochen ins Land, es meldeten sich weitere Bewerber für den Vorsitz, am Ende waren es sechs, und kurz vor dem Termin kam Unruhe auf. Je unzufriedener weite Teile der FDP mit der Ampel-Regierung in Berlin sind, hieß es, desto stärker könnte das Kuhle schaden. Denn er gilt auch, vielleicht zu Unrecht, als ein Linksliberaler – und als einer von denen, die in der Ampel-Koalition im Bundestag gut mit den Kollegen von SPD und Grünen zusammenarbeiten können. Das zweite ist wohl unumstritten.
In dieser Ausgangslage kursiert zum Start des FDP-Treffens die Einschätzung: Es kann sehr stark von einer guten Rede auf dem Parteitag abhängen, wie die Wahl ausgeht. Neben Kuhle hatte sich in den vergangenen Wochen jemand warm gelaufen, der in puncto Leidenschaft mindestens ähnlich stark auftritt, der 47-jährige Bundestagsabgeordnete und Wirtschaftswissenschaftler Gero Hocker aus Verden. Im Unterschied zu Kuhle, der als Göttinger eher einen intellektuellen Anstrich hat und im großstädtischen Milieu gut ankommt, wird Hocker als ländlich geprägt und bodenständig beschrieben. Noch etwas anderes kam hinzu: Kuhle hatte sich früh die Unterstützung von mehreren der acht Bezirksvorstände gesichert. Das klappte, obwohl einige wie Elbe-Weser oder Osnabrück zurückhaltend blieben. Dann trat Hocker auf und begann, sich ein Profil als „Rebell“ zu schaffen – als einer, der gegen die Absprachen der Bezirksvorstände agiert, die Basisarbeit stärken will und damit die FDP-Unzufriedenheit mit der Ampel auf Kuhle als „Kandidaten des Establishments“ zu lenken versteht.
Am Ende geht dieser vermutliche Plan von Hocker dann aber nicht auf: Nach viereinhalb Stunden Grußworten, Rechenschaftsberichten und einer Satzungsdebatte kommt die Abstimmung, und sie endet eindrucksvoll. Zwei von den sechs Kandidaten für den Vorsitz, Florian Kreipe und Ulrike Weber, erhalten gar keine Stimme der Delegierten. Zwei Bewerber, Lars Schubert und Jose Gomes, bekommen je eine Stimme. Für Hocker sprechen sich 101 Delegierte aus, für Kuhle 182. Damit wird der bisherige Generalsekretär mit 63 Prozent der Stimmen bei fünf Gegenkandidaten schon im ersten Wahlgang zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. Woran hat es gelegen? Waren die Delegierten vorher schon festgelegt – oder hat tatsächlich die Qualität der Reden eine Rolle gespielt?
Hocker spricht in seiner Rede von Defiziten und einer „notwendigen Aufarbeitung“: Trotz einer wachsenden Mitgliederzahl des Landesverbandes (ein Plus von 1500 auf insgesamt 7600 in den vergangenen fünf Jahren) habe man bei der Landtagswahl „das schlechteste Ergebnis seit 1994“ mit 4,7 Prozent verbuchen müssen. Über den Gegenkandidaten Kuhle sagt er nur knapp, dieser habe in Berlin „einen besseren Zugang zu Sozialdemokraten und Grünen“ als er. Dann fügt Hocker noch hinzu, dass die „liberale Stimme gegenüber Rot-Grün lauter als bisher“ hörbar sein müsse. Aber einen frontalen Angriff auf die Ampel-Regierung in Berlin verkneift sich Hocker. Das Ampel-Bündnis sei eine Mischung „zwischen Zwangsverheiratung und Vernunftehe“, sagt er und fügt hinzu: „Wir haben uns dafür entschieden. Wir ziehen das Ding jetzt durch.“ Das wirkt auf viele Delegierte offenbar halbherzig und unentschlossen. Auch Hockers Schlusssatz „Ich kann den Laden zusammenhalten. Ich kann Vertrieb, Kampagne und Führung. Ich kann Florett und Degen – und ich kann Teamplay. Vor allem kann ich Niedersachsen“ bringt nur einen Teil der Delegierten im Saal zum Jubeln.
Als sich wenig später dann Kuhle vorstellt, fallen die Unterschiede auf. Der bisherige Generalsekretär spricht offen seine Mitverantwortung für Fehler im Landtagswahlkampf an. Dass in den letzten Tagen vor dem 9. Oktober 2022 die Parole ausgegeben wurde, FDP zu wählen, um Rot-Grün zu verhindern, sei ein Fehler gewesen. Viele hätten sich davon verletzt gefühlt – „und die Entscheidung würde ich so nicht wieder treffen“. Die FDP habe sich zu sehr mit der eigenen Zukunft und zu wenig mit dem politischen Gegner beschäftigt. Dann setzt Kuhle in seiner Rede gleich mehrere Akzente, die klar und nach vorn gerichtet sind: Hannovers OB Belit Onay werde „in unserer außerparlamentarischen Opposition einen klaren Widerstand spüren“, wenn er sich weiter den radikalen Klima-Aktivisten „anbiedern will“.
„Ich würde mich schämen, wenn die FDP jetzt dieses Bündnis leichtfertig aufs Spiel setzen würde.“
Konstantin Kuhle, FDP-Bundestagsabgeordneter
In mehreren Regionalkonferenzen solle die FDP das Landtagswahlergebnis aufarbeiten – themenbezogen, mit externen Gästen und mit dem Ziel der Formulierung eines neuen Grundsatzprogramms. Was die Spitzenkandidatur zur Landtagswahl 2027 angeht, müsse das nicht zwingend der Landesvorsitzende sein, es könne mehrere Bewerber geben. „Lasst‘ uns darüber einen Mitgliederentscheid herbeiführen.“ In möglichst vielen Orten und Kreisen sollten Bürgermeister- und Landratskandidaten der FDP auftreten – „wir müssen sichtbar werden“. Ebenso deutlich legt Kuhle ein Bekenntnis zum Berliner Ampel-Bündnis ab: „Ich würde mich schämen, wenn die FDP jetzt dieses Bündnis leichtfertig aufs Spiel setzen würde.“
Kuhle erntet deutlich mehr Beifall als zuvor Hocker, und in seiner Bewerbungsrede wird so etwas wie Aufbruchstimmung spürbar. Manche sagen, das liege auch an Kuhles Bewerberin für das Amt der Generalsekretärin – die Lehrerin Imke Haake aus Großenkneten (Kreis Oldenburg). Da 2025 Bundestagswahlen sind, zwei Jahre vor der Landtagswahl, spricht einiges für eine Aufgabenteilung zwischen Kuhle und ihr – der Vorsitzende könnte seine Arbeit im Bundestag festigen und erneut dafür kandidieren, die Generalsekretärin könnte Spitzenkandidatin für die Landtagswahl werden. Aber das ist noch Zukunftsmusik. Beim Landesparteitag indes geht es zunächst noch um Fragen der Vergangenheit und der Gegenwart. Hier ein paar Beispiele:
Stefan Birkner scheidet mit Selbstkritik
Der bisherige Landesvorsitzende Stefan Birkner, der nach zwölf Jahren sein Amt aufgibt, war in seiner Abschiedsrede teilweise zu Tränen gerührt – vor allem, als er seinen Mentor Hans-Heinrich Sander erwähnte. Birkner sagte, die FDP habe ein Mobilisierungsproblem, das sei im Landtagswahlkampf sichtbar geworden. Derzeit sei die FDP von einigen sehr starken Bezirksverbänden geprägt, kleinere Bezirksverbände hätten zu wenig Einfluss. Was die Ampel-Regierung in Berlin angehe, sei von der anfangs euphorischen Stimmung „nichts mehr zu spüren“. Die Landesvorsitzende der Jungen Liberalen, Nadin Zaya, übte scharfe Kritik am derzeitigen Profil der FDP: Auf Bundesebene werde die Partei gerade „als Bremsklotz für Innovationen“ wahrgenommen. Peinlich sei, dass in einer Umfrage nur ein Prozent der Befragten die FDP als die Partei der Frauenförderung genannt hatte – „noch weniger als für die AfD“.
Grascha: FDP-Finanzprobleme nehmen zu
Der wiedergewählte FDP-Landesschatzmeister Christian Grascha berichtete über die Finanzlage der Partei. Positiv ist, dass vor der Landtagswahl Spenden in Höhe von insgesamt 263.000 Euro eingesammelt wurden. In diesem Jahr fehlen allerdings die Abgaben der Landtagsabgeordneten – es sind 50.000 Euro weniger im Etat. Da die niedersächsischen FDP- Bundestagsabgeordneten monatlich 100 Euro mehr an die Landespartei abführen wollen, wird der Verlust etwas gemindert. Gleichzeitig erhält die Niedersachsen-FDP aber 40.000 Euro weniger an staatlicher Parteienfinanzierung. Man habe Einsparungen im der Landesgeschäftsstelle von insgesamt 90.000 Euro vereinbart. Streit gab es auf dem Parteitag zum Antrag mehrerer Mitglieder, angeführt von Florian Bernschneider (Braunschweig), einen hauptamtlichen „politischen Geschäftsführer“ zu berufen. Eine Mehrheit des Parteitags entschied sich gegen den Vorstoß.
Keine Doppelspitze bei der FDP
Vor den Wahlen diskutierte die FDP über die Frage, ob die Partei sich künftig auch für eine Doppelspitze von zwei statt nur einem Landesvorsitzenden entscheiden kann. Der Plan, für einen solchen Fall zwingend Mann und Frau vorzuschreiben, ließ sich mit den Regeln der Bundessatzung nicht vereinbaren und wurde zurückgezogen. Es könnten also auch zwei Männer oder zwei Frauen sein. Doch der Antrag, obwohl breit unterstützt, erhält am Ende nur die Unterstützung von 66,0 Prozent der 286 Delegierten. Für einen Erfolg wäre eine Zweidrittelmehrheit nötig geworden, also 66,7 Prozent. Damit scheitert der Vorstoß knapp.
Hannover ohne Platz im Landesvorstand
Der starke FDP-Bezirksverband Hannover ist künftig im geschäftsführenden FDP-Landesvorstand nicht vertreten. Der Vorsitzende Kuhle kommt aus Süd-Niedersachsen, die Stellvertreter Gero Hocker (Verden), Anja Schulz (Uelzen) und Jan-Christoph Oetjen (Rotenburg) sind nicht aus Hannover – auch die Beisitzer Jens Beek (Emsland), Sarah Buss (Ostfriesland) und Lars Alt (Helmstedt) nicht. Für Schatzmeister Grascha (Einbeck) und Generalsekretärin Imke Haake (Oldenburg) gilt das gleiche.
Stefan Birkner wird auf dem FDP-Landesparteitag in Hildesheim als Landesvorsitzender verabschiedet. | Foto: Link Stefan Birkner wird auf dem FDP-Landesparteitag in Hildesheim als Landesvorsitzender verabschiedet. | Foto: Link Konstatin Kuhle (vorne) tritt auf dem Landesparteitag in Hildesheim die Nachfolge von Stefan Birkner (hinten) an. | Foto: Link Nadin Zaya, Vorsitzende der Jungen Liberalen in Niedersachsen, spricht auf dem Landesparteitag in Hildesheim. | Foto: Link Sarah Buss spricht auf dem Landesparteitag in Hildesheim. | Foto: Link Konstantin Kuhle spricht auf dem Landesparteitag der FDP in Hildesheim. | Foto: Link Stehende Ovationen für Stefan Birkner. | Foto: Link Jan-Christoph Oetjen wird in Hildesheim in den Landesvorstand gewählt. | Foto: Link Imke Haake spricht auf dem Landesparteitag in Hildesheim. Konstantin Kuhle spendet Applaus. | Foto: Link Anja Schulz bewirbt sich als stellvertretende Landesvorsitzende für den FDP-Vorstand. | Foto: Link Lars Alt redet auf dem FDP-Landesparteitag in Hildesheim. | Foto: Link Björn Försterling gelingt bei der Wahl zum stellvertretenden Landesvorsitzenden beinahe eine Überraschung: Im ersten Wahlgang erhält er genauso viele Stimmen wie Gero Hocker. Erst in Runde zwei unterliegt Försterling. | Foto: Link Stefan Birkner gratuliert Konstantin Kuhle zur erfolgreichen Wahl. | Foto: Link
Dieser Artikel erschien am 13.03.2023 in der Ausgabe #046.
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