Wie DRK-Einsatzkräfte das Flüchtlings-Drehkreuz Hannover am Laufen halten
Die planmäßigen Ankunftszeiten der Flüchtlingszüge am Messebahnhof Laatzen kennt Christian Niemüller aus dem Effeff. Leider kann sich der Chef des DRK-Einsatzes am Messegelände in Hannover darauf kaum verlassen. „Pünktlich kamen die Züge bisher nur selten, die Ankunftszeiten variieren extrem“, sagt der 56-jährige. Auch der 14.32-Uhr-Zug aus Frankfurt/Oder hat wieder einmal Verspätung. Erst eine Stunde nach der eigentlichen Ankunftszeit geht in der DRK-Einsatzzentrale in der Messehalle 13 der erwartete Funkspruch ein: Ankunft um 16.07 Uhr, Einsatzbesprechung jetzt. Zügig, aber mit stoischer Ruhe macht sich Niemüller auf den Weg. Für den stellvertretenden Regionsbereitschaftsleiter ist das, was jetzt kommt, längst Routine.
121 geflüchtete Ukrainer werden an diesem Nachmittag in Hannover erwartet. Bei den Passagieren handelt es sich in der Mehrzahl um junge Frauen oder Mütter mit Kindern. Nur wenige ältere Frauen sind an Bord, Männer fast gar keine. „Aktuell sind die Züge weit unter der Hälfte ausgelastet, das war anfangs anders“, sagt Niemüller. Im März gab es pro Zug noch bis zu 500 Passagiere. „In den Nachtzügen aus Cottbus sitzen jetzt teilweise nur zehn Leute“, weiß der DRK-Einsatzleiter. Die Planung wird dadurch aber nicht einfacher, denn die Flüchtlingsströme können nicht geleitet werden. „Wir müssen uns ständig darauf einstellen, dass ein Zug voll sein könnte“, sagt Niemüller. Zwar rechnet er erst einmal nicht mehr mit einer größeren Flüchtlingswelle, doch das könne sich jederzeit ändern. „In der Westukraine befinden sich eine Menge Binnenflüchtlinge. Wenn diese Regionen mehr unter Beschuss geraten, muss man wieder einen Anstieg der Flüchtlingszahlen erwarten.“
Drei Grüppchen haben sich in der Laatzener Bahnhofshalle gebildet, um sich auf die Ankunft der Ukrainer vorzubereiten: DRK, Bahnpersonal und Bundespolizei sprechen sich erst untereinander ab, dann beratschlagen die Führungskräfte gemeinsam. Zwischendurch fragt eine ehrenamtliche Helferin vom Flüchtlingsnetzwerk Laatzen den DRK-Einsatzleiter nach Instruktionen. „Einfach da zupacken, wo irgendwas ist“, gibt Niemüller als Devise aus und erklärt der Frau, wie sie gehbehinderte Passagiere am besten mit dem Rollstuhl vom Bahngleis abholen kann.
Die DRK-Einsatzkräfte aus Lüneburg kennen das Prozedere bereits. „Wir helfen den Leuten beim Umsteigen, mit den Koffern, mit den Kindern“, sagt Annalena Cordes. Die Rettungssanitäterin aus der Heide hat nicht nur bereits mehrfach am Laatzener Bahnhof mitgeholfen, sondern auch schon Flüchtlingszüge von Frankfurt/Oder nach Hannover an Bord begleitet. Verletzungen sind unter den Geflüchteten nicht selten, gelegentlich gibt es während der Reise auch medizinische Notfälle, wegen denen der Non-Stop-Express dann auch mal zwischendurch halten muss.
Bis vor kurzem wurde die medizinische Betreuung der Flüchtlingszüge vor allem von den niedersächsischen DRK-Ortsvereinen gestemmt. Inzwischen haben die Kollegen aus Brandenburg diese Aufgabe übernommen. „Bis auf Kopfschmerzen und Übelkeit war diesmal nichts“, sagt später Sanitäter Lucas Groß vom DRK Potsdam.
Auch am Bahnhof haben die Einsatzkräfte alles im Griff. Selbst ein drohender Versorgungsengpass mit Softgetränken für die ankommenden Kinder kann noch gelöst werden. Die DRK-Einsatzbereitschaft Misburg hat per Funk von der „Durstlöscher“-Krise erfahren und schafft kurz vorm Eintreffen des Zuges ein paar Paletten mit dem süßen Fruchtsaft herbei, nachdem das DRK-Vorratslager im Bahngebäude aufgrund eines technischen Defekts nicht zugänglich ist. Unter den 33 Kindern, die mit dem „Alpen-Sylt-Nachtexpress“ in Hannover angekommen sind, finden die Softgetränke auch reißenden Absatz. Die Erwachsenen interessieren sich dagegen vor allem für die weiteren Reisemöglichkeiten.
„Tagsüber reisen 80 bis 90 Prozent weiter. In den Nachtstunden landen alle in der Halle 13“, weiß Niemüller. In der Bahnhofshalle bekommen die Geflüchteten unter anderem Gratis-Fahrkarten, Getränke, Schokoriegel oder FFP2-Masken. Vor dem Gebäude verteilt Vodafone kostenlose Sim-Karten für Telefonie und Internet an die Ukrainer. Daneben steht ein weiterer DRK-Stand. „Wir geben vor allem Essen und heiße Getränke raus“, sagt Sonja Bakes vom Jugendrotkreuz. Außerdem haben Bakes und ihre Kolleginnen auch Spiele und Bücher für Kinder und bieten Beratung für die Erwachsenen. DRK-Bildungsreferentin Jolanta Voß ist als Übersetzerin vor Ort, viele weitere ehrenamtliche Dolmetscher sind im Bahnhofsgebäude aktiv.
Um 16.47 Uhr erklärt Niemüller den Einsatz am Bahnhof per Funk für beendet, nachdem fast alle Ukrainer den Bahnhof verlassen haben. Endlich findet auch der Einsatzleiter die Zeit, in einen Schokoriegel zu beißen – aber nur im Gehen. Er muss sofort wieder zurück zur Halle 13, wo er rund 40 Einsatzkräfte für den Drei-Schicht-Betrieb rund um die Uhr an sieben Tagen der Woche koordinieren muss. „Ich bin am 8. März um 9.35 Uhr von der Technischen Einsatzleitung informiert worden, dass ich an einer Einsatzbesprechung am Bahnhof Laatzen teilnehmen soll. Und danach ging es los, da haben wir schon gleich die ersten Kräfte alarmiert“, erzählt der Einsatzleiter, der bereits bei der Flüchtlingskrise 2015 das „Drehkreuz Nord“ mitgemanagt hat. „Damals habe ich den gleichen Job gemacht wie jetzt, nur dass wir damals keine Halle 13 hatten. Da gab es da draußen 100 Busse und alle Flüchtlinge, die ankamen, wurden damit gleich verlegt“, erinnert sich Niemüller.
„Das ist die vierte Flüchtlingskrise, die ich erlebe“
„Das ist jetzt im Prinzip die vierte Flüchtlingskrise, die ich erlebe“, sagt Niemüller. Schon 1989 nach dem Fall der Mauer habe er, damals noch hauptberuflich im Rettungsdienst, die Flüchtlinge in Empfang genommen, die aus den Botschaften der Ostblock-Länder nach Deutschland kamen. Danach begleitete er die Flüchtlinge der Jugoslawienkriege und sorgte für ihre sanitätsdienstliche Betreuung. Schließlich kamen die Syrien- und jetzt die Ukraine-Krise hinzu. Und auch darüber hinaus gab es im Katastrophenschutz für den 56-Jährigen immer viel zu tun.
Das schreckliche Zug-Unglück in Eschede 1998 mit 101 Toten und 70 Schwerverletzten war die erste große Herausforderung für den damals 32-Jährigen DRK-Einsatzleiter. Anschließend folgten unter anderem die Expo 2000, die Flutkatastrophe an der Elbe 2002, die Fußball-WM 2006 und das nächste Elbe-Hochwasser im gleichen Jahr, die Flutkatastrophe in Hildesheim 2007 sowie eine weitere Jahrhundertflut an der Elbe 2013. Darüber hinaus war Niemüller bei zahlreichen Bombenevakuierungen und Unfällen sowie schließlich auch der Corona-Pandemie aktiv. „Wir unterstützen immer dort, wo der Rettungsdienst eng wird“, sagt er.
„Wir wissen nicht, was der Tag bringt, aber wir sind darauf vorbereitet“
Kann den Profi da überhaupt noch etwas überraschen? „Wir Katastrophenschützer haben ein Motto: Wir wissen nicht, was der Tag bringt, aber wir sind darauf vorbereitet“, sagt Niemüller und lacht. Überraschungen gebe es immer. „Wenn’s brennt ruft man die Feuerwehr. Uns ruft man, wenn 50 Leute in einem Reisebus auf der Autobahn festsitzen und nicht mehr weiterkommen“, sagt Niemüller und fügt hinzu: „Das Entscheidendste für einen Katastrophenschützer ist: Man muss improvisieren können. Man muss zusehen, wie man Probleme löst.“
Niemüller und seine Kollegen erledigen das, was dringend getan werden muss, was aber sonst niemand machen kann – aus welchen Gründen auch immer. „Die letzten zwei Jahre waren wir mit Corona beschäftigt. Da hieß es testen, testen, testen. Und dann war der Wunsch der Region, dass es Impftermine am Abend gibt und da boten sich die ehrenamtlichen Helfer an. Dann sind wir nahtlos in die nächste Krise übergetreten und sind jetzt hier an der Messe im Gang“, sagt der Katastrophenschützer und wirbt für eine stärkere Unterstützung des Ehrenamts – insbesondere in finanzieller Hinsicht. „Wir haben noch Fahrzeuge in Betrieb, die sind älter als 40 Jahre. Wir müssen unseren Fuhrpark dringend erneuern, aber wovon?“, fragt Niemüller und sorgt sich auch darum, dass dem Katastrophenschutz nach der ganzen Dauerbelastung irgendwann die ehrenamtlichen Unterstützer ausgehen.
Ohne die ehrenamtlichen Strukturen, da ist sich Niemüller sicher, hätte das Krisenmanagement nicht funktioniert: „Es gibt ja nirgendwo einen Kasernenblock mit 150 Mann für den Katastrophenschutz, die auf Knopfdruck zur Verfügung stehen.“ Der Katastrophenschützer appelliert daher: „Es muss endlich eine grundsätzliche Wertschätzung der Helfer in der Politik stattfinden. Spätestens dann, wenn es um die Finanzierung geht, bleiben die Ehrenamtlichen ganz weit hinten zurück.“
Dieser Artikel erschien am 12.04.2022 in der Ausgabe #069.
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