„Barrierefreiheit gibt’s nur mit mehr Dolmetschern für Gebärdensprache“
Seit zwei Jahren ist die Welt der Landespolitik eine andere – Corona beherrscht das Themenfeld, in einigen Phasen sogar derart übermäßig, dass daneben keine anderen Fragen mehr Platz hatten. Eine, die nicht nur von Anfang an dabei war, sondern auch für die Kommunikation von zentraler Bedeutung, ist die Gebärdensprachdolmetscherin Jana Blume. Viele haben diese Frau schon oft im Fernsehen gesehen, sie hat ein bekanntes Gesicht. Doch sprechen hören haben sie die wenigsten. Jana Blume schaut im Gespräch mit Niklas Kleinwächter zurück auf eine spannende Zeit – und schildert ihre besonderen Beobachtungen. Podcast anhören: Soundcloud | Spotify | ApplePodcast
Rundblick: Frau Blume, Ihre korrekte Berufsbezeichnung lautet „Dolmetscherin für deutsche Sprache und für deutsche Gebärdensprache“. Warum ist das so kompliziert?
Blume: Weil das zwei Funktionen sind – ich übersetze Sprache in Gebärdensprache, und ich übersetze auch Gebärdensprache in deutsche Sprache.
Rundblick: Als vor zwei Jahren zunächst das gesamte öffentliche Leben heruntergefahren war, gab es in den ersten Wochen nur die täglichen Corona-Pressekonferenzen mit den aktuellen Nachrichten. Sie waren seit der zweiten dieser Pressekonferenzen dabei. Was war das für ein Gefühl?
Blume: Das war schon außergewöhnlich. Die Staatskanzlei war auf der Suche nach Gebärdensprachdolmetschern, und die Situation war ernst. Es gab jetzt aktuelle Informationen in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung, möglichst jeder sollte davon Kenntnis erlangen – auch die Gebärdensprachgemeinschaft. Ich hatte das Angebot gern angenommen, zumal andere Jobs plötzlich weggefallen waren. Und im Team mit meiner Kollegin Mira Sander klappte das auch gleich gut…
Rundblick: Sie arbeiten freiberuflich?
Blume: Ja. Ich bin normalerweise auf vielen Gebieten im Einsatz – in Krankenhäusern und Arztpraxen, auf Beerdigungen und bei Hochzeiten, in Schulen, Universitäten, beim Theater und auf Elternabenden. Sogar bei einem Kochkurs im Fünf-Sterne-Restaurant habe ich mal übersetzt.
Rundblick: Unterscheidet sich die Arbeit in der Politik von anderen Bereichen – und, wenn ja, wie?
Blume: Ich empfinde die politische Kommunikation höchst interessant, ebenso wie die unterschiedlichen Typen von Politikern. In meinem Job muss ich versuchen zu erkennen, was der Politiker sagen will oder gerade nicht sagen will. Und wenn ich das verstehe, kann ich seine Worte gut in Gebärdensprache übersetzen.
„Ich merke, wenn ein Politiker gestresst ist oder entspannt – oder wenn er die Fähigkeit besitzt, in gestressten Situationen entspannt zu wirken.“
Rundblick: Gibt es so etwas wie typische Reaktionsweisen der Politik?
Blume: Ich merke, wenn ein Politiker gestresst ist oder entspannt – oder wenn er die Fähigkeit besitzt, in gestressten Situationen entspannt zu wirken. Mir ist aufgefallen, dass Politiker, wenn sie sich um eine klare Antwort herumdrücken wollen, in die Geschichte ausweichen und erst einmal von früher erzählen, bevor sie dann auf den Punkt kommen oder auch gerade nicht.
Rundblick: Sie sind in der Corona-Zeit einem größeren Publikum bekannt geworden – sind Sie berühmt?
Blume (lacht): Nein, nein, bestimmt nicht. Einzelne Bekannte haben mich angesprochen auf meine Arbeit, sie haben bei mir auch gefragt, wie man die eine oder andere Bestimmung der Verordnung denn verstehen soll – und, was es Neues zu Corona gibt.
Rundblick: Was macht den Stress in Ihrem Job aus?
Blume: Man ist durch die Konzentration enorm angespannt, muss gleichzeitig die Vorträge hören, verstehen und in eine andere Sprache übersetzen. Glücklicherweise sind wir immer zu zweit im Team und wechseln uns nach zehn Minuten ab. Denn alle Erfahrung zeigt: Nach spätestens 30 Minuten schleichen sich bei jedem Gebärdensprachdolmetscher kleine Fehler ein, weil die Konzentration nachlässt.
Rundblick: Was ist leichter zu übersetzen – die unpräzisen Fragen von Journalisten oder die fachlich manchmal überaus komplizierten Antworten der Politiker und Beamten?
Blume: Was mich angeht – ich dolmetsche lieber die präzisen Fachbeiträge. Politische Kommunikation halte ich für unglaublich spannend. Zum Beispiel die Fragesteller, die zwar zwei Fragen ankündigen, aber dann in ihrem Beitrag fünf verstecken – oder auch die Politiker, die sich in der Antwort nicht scheuen, eine dumme Frage auch mal als solche zu bezeichnen.
Rundblick: Sie haben sicher oft auch Ihre eigene Sichtweise zu den Vorgängen, über die gesprochen wird…
Blume: Oberstes Prinzip ist, dass wir übersetzen, nicht interpretieren oder die eigene Meinung einfließen lassen. Das ist unser Job.
„Also Quarantäne etwa ist ein Zeigefinger, um den ein Halbkreis gezogen wird – der Betreffende ist abgegrenzt.“
Rundblick: Wie übersetzen Sie bestimmte Begriffe in die Gebärdensprache? Gibt es Situationen, in denen Sie ins Trudeln geraten?
Blume: Also Quarantäne etwa ist ein Zeigefinger, um den ein Halbkreis gezogen wird – der Betreffende ist abgegrenzt. Isolation zeigt den einzelnen oder die Umgebung, er ist vollständig isoliert. Was das Corona-Virus angeht, hat sich in der Gemeinschaft der Gebärdensprachler ein Symbol herausgebildet, das ging zunächst von China aus und hat sich dann im Internet verbreitet. Mit diesen Begriffen agieren wir gut und sicher. Was mich irritieren kann, ist, wenn jemand die Zahl 1150 nicht als „eintausendeinhundertfünfzig“, sondern als „elfhundertfünfzig“ ausspricht…
Rundblick: Manche meinen, Untertitel könnten doch ausreichen. Wozu die Gebärdensprache?
Blume: Ich halte Untertitel für sinnvoll, sicher aber ersetzen sie nicht die Gebärdensprache. Am besten wäre beides, so könnte sich jeder eine Methode heraussuchen, über die er am besten informiert wird. Deutschland liegt hier noch weit zurück, wenn man das etwa mit den USA vergleicht. Aber Untertitel geben diese komplizierten Satzgebilde, wie wir sie häufig in der politischen Sprache erleben, eins zu eins wieder. Damit sind viele Menschen überfordert. Die Gebärdensprache ist ein Weg, die Botschaft nicht schriftsprachlich wiederzugeben, sondern in der Grammatik der deutschen Gebärdensprache. Das ist ein riesiger Unterschied. Ich denke auch sehr oft, wenn ich Politiker höre – warum kann man das nicht verständlicher ausdrücken? Das wäre für alle angenehmer… (lacht)
Rundblick: Wir müssen alle wohl damit rechnen, dass nach dem Ende der Corona-Krise auch Ihr Einsatz als Gebärdensprachdolmetscherin bei den regelmäßigen Pressekonferenzen endet, oder?
Blume: Ich fände das sehr schade – und es wäre ein großer Schritt zurück, wenn wir über den barrierefreien Zugang zu Informationen für alle reden. Wenn die Gesellschaft von Barrierefreiheit spricht, sollte sie die eigenen Ansprüche auch erfüllen. Es gibt viele Hörgeschädigte , die setzen auf solche Botschaften. Ich habe es öfter gespürt, wenn unsere Dienste in der Vergangenheit mal ausgefallen waren und ich daraufhin direkt E-Mails mit konkreten Nachfragen bekommen habe. Die Entscheidung für unseren Einsatz hing damit zusammen, dass die Nachrichten für die Menschen in den unsicheren Corona-Lagen enorm wichtig waren. Das ist sicher so. Aber wer entscheidet, wann Nachrichten besonders wichtig sind und wir als Dolmetscher gebraucht werden? Wer legt fest, dass etwas nicht ganz so wichtig ist – und mit welchem Recht geschieht das mit Blick auf andere Menschen. Das darf doch nicht vom Zufall oder von einer Laune abhängen. Ein Recht auf Informationen haben wir doch alle.
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