19. Jan. 2023 · Parteien

Aufstieg von Boris Pistorius schwächt die Karrierechancen anderer Niedersachsen in Berlin

Boris Pistorius wird Hannover in Richtung Berlin verlassen. Nach zehn Jahren im niedersächsischen Innenministerium geht es für den SPD-Politiker künftig im Bundesverteidigungsministerium weiter. | Foto: Wallbaum

Warum schafft es Stephan Weil nicht, zügig einen neuen niedersächsischen Innenminister zu berufen? Es kursieren dafür mehrere Erklärungen. Die eine lautet, dass die gesamte politische Landschaft vom plötzlichen Aufstieg Boris Pistorius‘ zum Bundesverteidigungsminister überrumpelt worden sei – so sehr, dass die Neuordnung danach allen Beteiligten schwer falle. Man müsse Verständnis haben. Die anderen sagen, es sei halt Weils Stil: Er lasse sich von niemandem drängen, außerdem gehe ja Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Es gibt aber noch eine dritte Erklärung, die bisher so gar nicht ins Blickfeld geraten, wohl aber von großer Bedeutung ist: Die Nominierung von Pistorius hat die politischen Gewichte in der Bundes-SPD so sehr durcheinandergewirbelt, dass Weil im Zuge der Berufung des neuen Innenministers auch auf mehrere verletzte Seelen von niedersächsischen SPD-Bundespolitikern Rücksicht nehmen muss. Das heißt, dass er jetzt bei der Nachbesetzung umso vorsichtiger und behutsamer agieren muss.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Boris Pistorius zum neuen Verteidigungsminister ernannt. | Foto: Bundesregierung/Bergmann

Was ist geschehen? Bisher war die Niedersachsen-SPD in Berlin schon stark vertreten – mit Hubertus Heil als Bundesarbeitsminister, an der Spitze eines der wichtigsten Ressorts, und mit Lars Klingbeil als SPD-Chef. Stärker war nur das – deutlich bevölkerungsreichere – Nordrhein-Westfalen mit zwei Bundesministern und dem SPD-Fraktionschef. Die von Olaf Scholz getroffene Entscheidung, die Hessin Christine Lambrecht durch den Niedersachsen Boris Pistorius zu ersetzen, kommt SPD-intern einer kleinen Revolte gleich. Plötzlich haben die niedersächsischen Sozialdemokraten jetzt zwei Bundesministerien, sogar zwei bedeutsame, und dazu noch den Parteivorsitz. Sie sind nun in Berlin stärker als die Genossen aus NRW, das soll angesichts der Kräfteverhältnisse in der Mitgliedschaft etwas heißen.

Bedeutsam wird dieser Umstand vor allem mit Blick auf eine Entscheidung, die im Herbst dieses Jahres anstehen soll, nämlich die Neuwahl des Vorstandes der SPD-Bundestagsfraktion. Seit gut einem Jahr heißt es nämlich, Fraktionschef Rolf Mützenich werde sich womöglich aus Altersgründen zurückziehen – und dann komme Matthias Miersch aus Laatzen als Nachfolger in Betracht, der Vorsitzende des mächtigen SPD-Bezirks Hannover. Miersch ist zugleich eine Leitfigur der „Parlamentarischen Linken“ (PL), die bisher stets die einflussreichste Untergruppierung in der SPD-Bundestagsfraktion gewesen war. Das schien noch Ende 2021 abgemacht zu sein.

Matthias Miersch | Foto: Susie Knoll

Doch die letzten Monate liefen nicht gut für Miersch. Zum einen haben sich die Machtverhältnisse in der SPD-Bundestagsfraktion verändert, begünstigt auch durch die von Kanzler Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ nach dem Beginn von Putins Angriffskrieg. Der eher konservative „Seeheimer Kreis“ hat in der Bundestagsfraktion Boden gut gemacht – zu Lasten der PL. Schon Mitte Dezember wagte der „Spiegel“ die Prognose, für Miersch geplanten Aufstieg an die Spitze der Bundestagsfraktion könne es schwer werden – wegen der Links-Rechts-Verschiebung. Spätestens nach Pistorius‘ Aufstieg könnte es nun noch schwerer werden, diesmal wegen des Regionalproporzes. Damit stellt sich die Frage: Was wird aus Matthias Miersch?

Der 54-Jährige ist allerdings nicht das einzige „Opfer“ der jüngsten Umbildung des Bundeskabinetts. Niedersachsens SPD stellt bisher zwei „Parlamentarische Staatssekretäre“, das sind Abgeordnete mit Hilfsfunktion für die Minister, die also durchaus repräsentative Aufgaben erfüllen. Das sind begehrenswerte Posten. Dass Siemtje Möller (Friesland) dies weiter im Verteidigungsministerium für den neuen Minister Pistorius wahrnimmt, gilt aus regionalpolitischen Gründen als problematisch. Bedroht sein kann auch Johann Saathoff (Emden), bisher Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium. Mit Recht könnten die anderen SPD-Landesgruppen verlangen, dass angesichts des Niedersachsen-Übergewichts bei den Ministern Möller und Saathoff das Feld räumen sollen. Damit könnte es am Ende drei womöglich enttäuschte SPD-Bundestagsabgeordnete aus Niedersachsen geben, die zu den Verlierern des Aufstiegs von Pistorius zählen und auf eine Entschädigung pochen könnten.

Wie aber könnte das gelingen? Dass Siemtje Möller oder Johann Saathoff auf den freigewordenen Posten des Innenministers rücken könnten, ist so gut wie ausgeschlossen. Saathoff soll auch schon abgelehnt haben, Möller kommt dafür erst gar nicht in Betracht. Aber Miersch, ein promovierter Jurist mit langjähriger politischer Erfahrung, gilt durchaus als Schwergewicht – auch wenn er sich bisher auf das Feld der Umwelt- und Energiepolitik konzentriert hatte. Würde er sich womöglich angesichts begrenzter Karrieremöglichkeiten in Berlin komplett neu erfinden, in die Landespolitik wechseln und dann noch in das für ihn ungewohnte Feld der Innenpolitik? Ausgeschlossen ist das nicht. Auf jeden Fall empfiehlt es sich für einen fürsorglichen und umsichtigen SPD-Landeschef und Ministerpräsidenten Stephan Weil, Miersch zumindest die Möglichkeit für diesen Wechsel in Aussicht zu stellen.

Vielleicht dauert die Neubesetzung des niedersächsischen Innenministeriums auch deshalb so lange, weil Stephan Weil es auf jeden Fall vermeiden will, irgendeinen Genossen zu übergehen oder zu verprellen – auch diejenigen, die in Berlin sitzen und beginnen könnten, den steilen Aufstieg von Pistorius mit innerlichem Groll zu verfolgen. Dass sich die Personalsuche nun hinzieht, hat allerdings auch seinen Preis. Schon mehrere Namen, über die in den vergangenen Tagen heftig spekuliert wurde, sahen sich genötigt zu mehr oder weniger klaren Aussagen – oder auch Absagen. Braunschweigs Oberbürgermeister Thorsten Kornblum, den viele im hannoverschen Innenministerium gern als neuen Minister gesehen hätten, gab ein klares Bekenntnis für seine Stadt ab – wohlwissend, dass ihm alles andere viele Braunschweiger übel genommen hätten. Dabei wäre er eigentlich eine perfekte Wahl für das Innenressort.

Über Alexander Götz, einen früheren profilierten Abteilungsleiter, wird immer wieder berichtet – doch verdichtet hat sich seine Benennung bisher noch nicht. Dabei wäre er vor vier Monaten fast schon wieder in die Landesregierung als Spitzenbeamter zurückgekehrt. Der Landrat aus Friesland, Sven Ambrosy, gilt schon lange als jemand, der gern auch in die Landespolitik gehen würde. Über seinen Namen wird auch nach wie vor intensiv, aber folgenlos diskutiert. Und dann kursieren noch Überlegungen einer möglichen Rochade im Kabinett. Denkbar wäre etwa, dass Justizministerin Kathrin Wahlmann ins Innenressort wechselt – und beispielsweise ihr Staatssekretär Thomas Smollich im Justizministerium dann zum Minister aufsteigt. So erzählt man es sich, und man erzählt sich gerade sehr viel. Wahlmann ist immerhin diejenige der neuen, im November ernannten Landesminister, die derzeit im landespolitischen Betrieb mit den freundlichsten Kommentaren begleitet wird.

Kathrin Wahlmann und Thomas Smollich bilden
seit November 2022 die neue Hausspitze im Niedersächsischen
Justizministerium. | Foto: MJ

Dass heute, drei Tage nach Pistorius‘ Berufung in die Bundespolitik, immer noch über die abenteuerlichsten Varianten debattiert wird und die Staatskanzlei in Hannover weiter eisern zu alldem schweigt, sehen die einen als Beleg für ein Defizit bei Stephan Weil: Er habe sich nicht rechtzeitig auf die Folgen eines bevorstehenden Abgangs von Pistorius vorbereitet, obwohl dessen Ambitionen doch schon seit Jahren bekannt waren. Die anderen sehen darin einen Beleg für Stephan Weils Stärke: Gerade jetzt bewahre er Ruhe und sei sorgfältig damit beschäftigt, eine möglichst breite Basis für seine Entscheidung zu schaffen, und das sehr diskret und vertraulich. Wir dürfen gespannt sein, was dabei am Ende herauskommt.

Dieser Artikel erschien am 20.1.2023 in Ausgabe #010.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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