24. Juni 2020 · 
Inneres

Was für Gütersloh gilt, muss das nicht auch für Göttingen gelten?

Die abrupt steigende Zahl von Corona-Neuinfektionen in den nordrhein-westfälischen Kreisen Gütersloh und Warendorf hat am Mittwoch im Krisenstab der niedersächsischen Landesregierung eine hektische Aktivität ausgelöst – und rasch die Erkenntnis reifen lassen, umfangreiche Kontaktbeschränkungen festlegen zu wollen. Bis die entsprechende „Allgemeinverfügung“ dann am späten Nachmittag fertig wurde, vergingen allerdings Stunden – denn es kostete mehreren Juristen viel Schweiß, die Formulierungen möglichst unangreifbar und vertretbar zu fassen. Unterm Strich wird bezweckt, dass Einwohner aus den Kreisen Gütersloh und Warendorf, erkennbar an den Autokennzeichen GT und WAF, möglichst nicht nach Niedersachsen kommen und dort dann auch nicht bleiben sollen.
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Geregelt ist jetzt, dass sie in Niedersachsen nicht übernachten dürfen – auch nicht in Ferienhäusern, Ferienwohnungen und auf Campingplätzen. Hintergrund ist die Befürchtung, sie könnten sich wegen der erhöhten Virus-Ausbreitung schon infiziert haben und die Erkrankung weiter nach Niedersachsen tragen. Am Mittwochmorgen noch herrschte aber im Krisenstab noch eine andere Sorge: Auch in einem niedersächsischen Landkreis, nämlich Göttingen, ist die Zahl der Neuinfektionen hoch – aber will man Menschen aus Göttingen verbieten, ihren Landkreis zu verlassen? In diesem Fall könnten beispielsweise Landtagspräsidentin Gabriele Andretta (SPD), dem Haushaltsausschussvorsitzenden Stefan Wenzel (Grüne) oder Agrar-Staatssekretär Ludwig Theuvsen (CDU) die Präsenz in Landtag und in den Ministerien nicht mehr gestatten.

Göttingen ist nicht Gütersloh

Unterm Strich bleibt Göttingen jetzt ausgespart, und in der Begründung der Verordnung behauptet die Landesregierung, in Warendorf und Gütersloh liege ein „klar lokal eingegrenztes Infektionsgeschehen nicht vor“. Mit anderen Worten, auch wenn das nicht wörtlich erwähnt wird: In Göttingen sei es anders. Wie Regierungssprecherin Anke Pörksen mitteilte, hat am Mittwochmorgen eine Sonder-Konferenz der Landes-Gesundheitsminister stattgefunden, ein einheitliches Vorgehen aller Bundesländer sei danach nicht zu erwarten. Zeitgleich verbreitete der friesländische Landrat Sven Ambrosy (SPD), mehrere Kommunen an der Nordseeküste, einem bei Bürgern aus NRW beliebten Reiseziel, würden über Aufenthaltsverbote für Menschen aus GT und WAF nachdenken. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) gab zu dieser Zeit ein Interview, in dem er davor warnte, die Bürger aus diesen beiden Kreisen zu stigmatisieren. Trotzdem gab die Landesregierung am Vormittag im niedersächsischen Krisenstab die Marschrichtung aus, man wolle „wie Bayern“ ein Beherbergungsverbot für Bürger aus beiden Kreisen verhängen. Mecklenburg-Vorpommerns Verordnung geht sogar noch weiter und schließt auch Tagestouristen aus. Im Kreis Osnabrück und in der Stadt Osnabrück, die direkt an Warendorf und Gütersloh grenzen, gelten bereits strenge Auflagen gegenüber Menschen aus beiden NRW-Nachbarkreisen. Sie dürfen dort keine Konzerte, Sportanlagen oder Spielplätze besuchen, müssen Masken tragen. Dies ist der Sorge geschuldet, dass Menschen aus Gütersloh wegen der dortigen Sperrungen nach Niedersachsen ausweichen – und das Virus auf diese Weise verbreiten. Grundlage für solche Verfügungen ist das Bundes-Infektionsschutzgesetz, das bei Gefahren zu strengen Beschränkungen ermächtigt.

Reiseverbote womöglich unverhältnismäßig

Dies ist allerdings juristisch besonders heikel. Maßstab für die Verbote dürfte die Zahl von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen sein, diese Obergrenze ist sowohl in Gütersloh wie in Warendorf überschritten worden. Nur: In beiden Fällen heißt es von den dortigen Behörden, das Virus habe sich bei Schlachthof-Mitarbeitern und ihren Familien verbreitet, sei also relativ gut lokalisierbar und könne mit gezielten Kontaktverfolgungen eingegrenzt werden. Wenn das stimmen sollte, könnten Ausgangs- oder Reiseverbote unverhältnismäßig sein und vor Gericht erfolgversprechend angefochten werden können. In Niedersachsen stellt sich noch ein zusätzliches Problem: Nach dem Corona-Ausbruch in zwei Hochhäusern und im Umfeld des Grenzdurchgangslagers Friedland ist auch im Kreis Göttingen, vor allem in der Stadt, die Obergrenze von 50 Neuinfektionen gebrochen worden. Wenn man also in Gütersloh und Warendorf diese Infektionszahl als objektivierbaren Maßstab anlegt, kann man schlecht darauf verzichten, dies auch für den Kreis Göttingen zu tun. Dabei werden gerade die Göttinger nicht müde zu betonen, dass gerade bei ihnen eine Eingrenzung der Ansteckungsgefahr bestehe und auch mit Test-Reihen nachgewiesen werden konnte. Allerdings hört man die ähnliche Argumentation auch aus Gütersloh und Warendorf, nur wird das von der Landesregierung in Hannover – anders als mit Bezug auf Göttingen – nicht akzeptiert. Wenn ein Gütersloher, der nicht in Niedersachsen übernachten darf, die Verordnung juristisch angreift, könnte er wohl nicht geringe Erfolgsaussichten haben.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #119.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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