Auf den meisten Parteitagen gibt es zwei Inszenierungen. Die erste spielt sich ganz öffentlich auf der großen Bühne ab und ist meist recht gut choreografiert. Eine zweite Inszenierung kann man derweil entdecken, wenn man sich jenseits des offiziellen Programms durch die angemieteten Räumlichkeiten bewegt. Was man dort sieht, ist in der Regel nicht weniger choreografiert, denn die Politikprofis wissen sehr genau, dass auch das Beiprogramm mit seinen Details Wirkung entfalten kann. So war es auch am vergangenen Wochenende beim jüngsten Parteitag der niedersächsischen Grünen in Celle.

Die Herrentoilette ist auf dem Grünen-Landesparteitag zum „WC für alle“ erklärt worden. | Foto: Wallbaum

Während auf der großen Bühne gerade Greta Garlichs zur womöglich ersten „queeren“ Landesvorsitzenden in der Geschichte der Landespartei gewählt wurde, konnten die Besucher abseits des offiziellen Geschehens ganz praktische Auswirkungen der grünen Queerpolitik entdecken. Wollte man nämlich am Rande der Veranstaltung einem zutiefst menschlichen Bedürfnis nachgehen, musste man wählen zwischen einer Toilette, die für alle bestimmt ist, und dem Damen-WC. Dass die Parteitagsregie die Schilder fürs Herren-WC mit laminierten gelben Zetteln mit der Aufschrift „WC für alle“ hat überkleben lassen, war den allermeisten Kommentatoren des Parteitags immerhin eine Erwähnung in ihren journalistischen Features wert. Denn plötzlich trafen da zwei Lebenswelten aufeinander, die einander sonst selten so nah kommen.

„Wie rechtfertigt man Quoten für Frauen, wenn man auf der anderen Seite die Binarität von Mann und Frau ablehnt?“


Nun könnte man es dabei bewenden lassen, dass da wieder eine schlüpfrige Toiletten-Diskussion angedeutet wird. Doch es lohnt sich ein intensiverer Blick auf diesen Teil der Parteitags-Inszenierung. Denn was bedeutet es eigentlich, dass Frauen noch eine eigene Toilette haben – und Männer nicht? Und was bedeutet es, dass es die Grünen, die stets quotierte Listen und Vorstände haben, inzwischen eine Rednerinnenliste haben – und eine Liste für alle anderen, die sich zu Wort melden wollen? An diesen scheinbar banalen Beispielen deutet sich ein Konflikt an, der in bestimmten Kreisen schon seit Jahren ausgefochten wird und sich in den vergangenen Monaten radikal zugespitzt hat. Es ist ausgerechnet ein Konflikt, der die Seele der grünen Partei in besonderer Weise berührt, weil da zwei Welten teils aggressiv aufeinanderprallen, die die Grünen seit jeher zu repräsentieren versucht haben: die Feministinnen und die „queere Community“. Wie rechtfertigt man Quoten für Frauen, wenn man auf der anderen Seite die Binarität von Mann und Frau ablehnt?

Symbolfoto: GettyImages/LemonTreeImages;

In Großbritannien etwa gibt es schon seit längerem rege Diskussionen über den Umgang mit transidenten Menschen, wenn es um die besonderen Schutzräume von Frauen geht. Eine größere Öffentlichkeit beschert diese Debatte die Autorin der „Harry Potter“-Bücher, Joanne K. Rowling, die für sich in Anspruch nimmt, Feministin zu sein, aber Trans-Frauen am liebsten aus Frauenhäusern, von Frauen-Toiletten, aus Frauen-Saunen und vermutlich auch von Frauen-Parkplätzen fernhalten möchte. In Deutschland wird diese Position etwa von der „Emma“-Chefin Alice Schwarzer vertreten, die nicht erst deshalb vom linken Milieu abgelehnt wird. Und auch bei den Grünen selbst blitzt dieser Konflikt gelegentlich auf.

So kam es im Sommer 2021 in Baden-Württemberg zu einem kuriosen Fall, der Aufsehen erregte. Bei der Vorstandswahl eines Stadtverbands erklärte ein Familienvater, er sei ab sofort als Frau in der Mitgliederkartei zu führen und kandidiere nun für den Frauen-Platz der Grünen-Doppelspitze. Er wollte damit offenbar zugleich die Frauenquote diskreditieren als auch eine öffentliche Diskussion anstoßen über das Ansinnen der Grünen im Bundestag, wonach jeder künftig allein durch Sprechakt das Geschlecht ändern können soll. Mit dem sogenannten Selbstbestimmungsgesetz möchte die Ampel-Regierung das vom Bundesverfassungsgericht längst angezählte Transsexuellengesetz reformieren und radikal modernisieren. Die Frage, wer eigentlich eine Frau ist, spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Für weite Teile der Bevölkerung dürfte dieser Konflikt zwischen Feministinnen und Queer- oder Trans-Aktivisten auch deshalb lange Zeit unbemerkt geblieben sein, weil sie die Punkte, über die gestritten wird, banal finden mögen; aber auch deshalb, weil sie die Vokabeln, mit denen da hantiert wird, schon lange nicht mehr verstehen. Nimmt man allein den Begriff „queer“ stellt sich für die meisten Menschen wohl die berechtigte Frage, was damit eigentlich genau gemeint ist. Die Antwort ist derweil nicht ganz einfach, gibt es doch mindestens zwei Interpretationen der aus dem Englischen entlehnten Vokabel, die wörtlich übersetzt „seltsam“ heißt.



Die inzwischen am weitesten verbreitete Verwendung dieses Wortes ist die eines Sammelbegriffs für alle Menschen, die sich nicht als klassisch männlich oder weiblich und dabei heterosexuell definieren. An dieser Stelle muss betont werden, dass es hier um zwei unterschiedliche Dimensionen geht, nämlich die geschlechtliche Identität („was ich bin“) und die sexuelle Orientierung („was mich anzieht“). Hinter „queer“ können sich dann also sowohl Lesben und Schwule sowie Bisexuelle (sexuelle Orientierung) als auch transidente oder intergeschlechtliche Menschen (sexuelle Identität) zusammenschließen. So gesehen kann „queer“ als die gefälligere Vokabel betrachtet werden, mit der man das schreckliche Akronym LSBTI vermeiden kann, das inzwischen wahlweise noch um zahlreiche andere Buchstaben ergänzt wird.

Die zweite, seltener gewordene aber dennoch vorhandene Verwendung des Wortes „queer“ ist allerdings eine politische, die vornehmlich von linken Aktivisten genutzt wird, wenn diese aus der sexuellen oder geschlechtlichen Identität auch eine politische Orientierung ableiten, die in der Tendenz gegen den Staat und dessen starre Strukturen gerichtet ist. Nicht nur deshalb gibt es auch homosexuelle Menschen, die den Begriff „queer“ als Selbstbeschreibung ablehnen. Die Lebenswirklichkeit eines schwulen Mannes hat inzwischen wenig zu tun mit den Herausforderungen einer Trans-Person. In Folge dieses veränderten Selbstverständnisses wurde vor einigen Jahren beispielsweise das einstige „Schwule Forum Niedersachsen“ umbenannt in das „Queere Netzwerk Niedersachsen“. Der Verein, der als Erstempfänger für die Verteilung der entsprechenden Landesfördermittel verantwortlich ist, setzt sich inzwischen zusammen aus vier Säulen je für Schwule, Lesben, Trans- und Intergeschlechtliche. Mit der begrifflichen Veränderung verbindet sich auch eine politische und inhaltliche Verschiebung.

Greta Garlichs ist in Celle zur ersten queeren Landesvorsitzenden der Grünen in Niedersachsen gewählt worden. | Foto: Link

Für die neue Grünen-Chefin Greta Garlichs ist „queer“ derweil der Sammelbegriff, der alle Personen meint, die sich nicht der heterosexuellen Geschlechternorm zuordnen. „Es ist wichtig, einen Oberbegriff zu haben, den auch die vielen Menschen verstehen, zu deren Lebensrealität das Thema nicht gehört.“ Zu der Toiletten-Frage sagt sie, dass es in der Gesellschaft und bei den Grünen Menschen gebe, „die sich nicht im binären Geschlechterspektrum verorten. Ihnen bieten wir damit einen Ort, an dem sie sich wohl- und sicher fühlen können.“ Die Toiletten-Frage will man in der Landesgeschäftsstelle der Grünen aber nicht zu hoch aufhängen. Man hätte die Toiletten schließlich auch einfach nach Funktion betiteln können, also ob es hinter der Tür ein Urinal gibt oder Klo-Kabinen, erläutert Grünen-Pressesprecherin Heike Köhn. Das Männer-WC biete einfach eine „Bandbreite an Nutzungsmöglichkeiten“ und sei deshalb als das Universal-WC ausgewählt worden.

Mit den Worten „Frauen“ und „offen“ sind zwei Kisten beschriftet, die beim Landesparteitag der Grünen in Celle auf der Bühne stehen. Parteimitglieder können hier Vorschläge einwerfen. | Foto: Link

Spricht man mit Greta Garlichs über die Toiletten-Posse, wird überdeutlich, dass es ihr doch um viel mehr geht, als dass bei der Landesdelegiertenkonferenz jedes Mitglied das passende WC findet. Die neue Landesvorsitzende ist zugleich „vielfaltspolitische Sprecherin“ ihrer Partei; die Position ist neu und drückt den Geist aus, der hinter dem „WC für alle“ steckt. Denn was die Grünen eigentlich wollen, ist eine Partei für alle zu sein – und eine Gesellschaft für alle zu schaffen. Das macht Garlichs auch deutlich beim Thema Selbstbestimmungsgesetz: „Trans-Menschen sind doppelt und dreifach diskriminiert. Die Diskussion über das Selbstbestimmungsgesetz sollte nicht auf deren Rücken ausgetragen werden. Unser Auftrag ist ganz klar: Wir schützen alle Menschen.“

Ihr Auftrag als „vielfaltspolitische Sprecherin“ ist es außerdem, nicht nur die „queeren“ Menschen zu repräsentieren – sondern alle potentiell marginalisierten Gruppen, wie etwa Menschen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund oder von Armut betroffene. Dabei könne es nicht darum gehen, alle Vielfaltsdimensionen durch eigenes Erleben zu vertreten, sagt Garlichs. Ihre Aufgabe sei es vielmehr, die Betroffenen an den Tisch zu holen, ihnen Raum zu geben und dafür zu sorgen, dass sie sichtbar werden und sich leichter beteiligen können. Sie sieht sich als Anwältin für alle Menschen in ihrer Partei.