Die „Niedersächsische Bildungscloud“ soll die Schulen im Land digitalisieren. Das Fazit von Nutzern lautet: Die landesweit einheitliche Lösung ist gut gemeint, hat aber Schwächen. Dabei gibt es längst etablierte Systeme in den Schulen – auch aus Niedersachsen.

Foto: iServ; Nds Bildungscloud

Auf Beschwerden von Lehrkräften ist das Support-Team der Landesinitiative n-21 vorbereitet. Die IT-Spezialisten erzählen in ihrem Blog davon: „… die Anwendung tut nicht das, was sie soll. … Es gibt also ein Verhalten, welches erwartet wird und eines, welches geliefert wird. Die Lehrkraft ist, sagen wir mal ,sauer‘ und schreibt eine E-Mail: ,Das System ist schlecht, nix funktioniert!‘ Spoiler: Das tut manchmal gut, trägt aber nicht zur Beseitigung des Problems bei…“ N-21, eine gemeinsame Initiative von Politik und Wirtschaft, installiert seit rund einem Jahr die „Niedersächsische Bildungscloud“ (NBC) an allen Schulen, die das wünschen. „Mittlerweile sind etwa 1600 Schulen in der NBC registriert“, sagt Ulrich Schubert, stellvertretender Pressesprecher im Kultusministerium. Das ist mehr als die Hälfte im Land. Allerdings, entgegnet Prof. Ira Diethelm, Informatik-Didaktikerin an der Universität Oldenburg: „Wie viele Accounts existieren, sagt noch nichts darüber aus, wie viele wirklich genutzt werden.“


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Die Niedersächsische Bildungscloud ist ein Lernmanagement-System, das den Schulen eine „digitale Grundversorgung“ sichert, wie es das Kultusministerium formuliert: Sie umfasst Schulorganisations-Tools, ein individuelles Aufgaben-Management für alle Schüler, Möglichkeiten zur Gruppenarbeit, einen Messenger und diverse Lernmaterialien. Integriert ist die Videokonferenz-Software BigBlueButton. Die Bildungscloud ist ein Angebot unter zahlreichen auf dem Markt. IServ, Webweaver, itslearning und andere Systeme werden von mittelständischen Unternehmen angeboten. Die IServ GmbH beispielsweise ist ein Unternehmen aus Braunschweig, das sogar in der Landesinitiative n-21 vertreten ist. Sein Lernmanagementsystem ist bereits 2001 gestartet, nach eigenen Angaben haben sich seine Zugriffszahlen in der Pandemie verzehnfacht.

Als IServ-Geschäftsführer frustriert es mich sehr, dass Geld ohne Ende herausgehauen wurde.

2017 machte sich eine Projektgruppe mit zunächst 30 Pilotschulen auf, Wege in Digitalisierung für niedersächsische Schulen zu finden. „Unser Ziel war es, eine Lernumgebung aufzubauen und zu erproben, an die modular und schulspezifisch unterschiedliche Cloudlösungen angeschlossen werden können“, erinnert sich Jan-Peter Braun, Schulleiter der IGS Lengede. „Doch dann hat die Projektleitung entschieden, einen anderen Weg zu gehen.“ Das Kultusministerium legte sich bereits 2018 auf ein einziges Lernmanagementsystem fest: Auf der Bildungsmesse didacta kam man mit dem gemeinnützigen Hasso-Plattner-Institut (HPI) aus Potsdam ins Geschäft. Die Grundlage für die NBC sollte die in Potsdam entwickelte HPI Schulcloud bilden, die, wie Konkurrent IServ errechnet hat, mit insgesamt 21 Millionen Euro vom Bund gefördert wird. Zum Ärger von IT-Unternehmen, die hier den Wettbewerb verzerrt sahen: „Als IServ-Geschäftsführer frustriert es mich sehr, dass Geld ohne Ende herausgehauen wurde“, erklärte Jörg Ludwig im März im Landtag bei einer Sitzung des Sonderausschusses zur Aufarbeitung der Pandemiefolgen.

„Die Kriterien für die Auswahl des Lernmanagementsystems sind den an dem Projekt beteiligen Schulen nicht bekannt“, kritisiert Schulleiter Braun. „Andere Bundesländer haben Auswahlkriterien festgelegt, wie beispielsweise Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern, Baden-Württemberg, Berlin oder Bremen.“ Im kleinsten Bundesland arbeitet man bereits seit 2015 mit „itslearning“. Dieses System nutzt auch die IGS Lengede, die den Deutschen Schulpreis 20/21 in der Kategorie „Digitale Lösungen umsetzen“ gewonnen hat. „Das HPI-Produkt erfüllt nicht unsere Anforderungen“, urteilt Braun. Das Land wirbt damit, das eigene Angebot sei kostenlos. Für Braun sticht dieses Argument nicht: Die Systemkosten an der IGS bleiben mit weniger als einem Euro pro Schüler und Monat überschaubar.

Klausuren sind weniger defizitorientiert, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst die Aufgaben auswählen können, die sie sich zutrauen.

Hilfreicher als ein landesweit einheitliches System wäre, meint der Schulleiter, transparent zu machen, welche datenschutzkonformen Lernmanagementsysteme es auf dem Markt gibt. So könne sich jede Schule das zu ihr passende Paket zusammenstellen. Die Freiheit dazu gibt das Land den Schulen, doch oft fehlt es am nötigen Know-how. Mit der Bildungscloud allein kommt die Schule noch nichts ans Netz: Zusätzlich benötigt man noch einen Anbieter, der E-Mail-Adressen für Lehrkräfte und Schüler bereitstellt. Die NBC leistet das nicht. Deswegen, erklärt Professorin Diethelm, funktionierte das Onboarding bei der Bildungscloud vielerorts ausgerechnet mit Unterstützung von IServ.

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So war es auch beim Evangelischen Gymnasium Nordhorn. Die Schule gehört zum MINT-EC-Netzwerk, das die HPI Schulcloud testen durfte, und wechselte noch vor dem Lockdown zur NBC. Der projektverantwortliche Lehrer Christian Kirberger ist begeistert von den pädagogischen Möglichkeiten, die ihm das System bietet: Er führte einen „Gleitzeit-Unterricht“ ein, innerhalb dessen die Schüler individuell am eigenen Gerät Aufgaben lösten. Sie konnten das im eigenen Tempo tun, ohne sich vor der Klasse als Streberin oder Langsamchecker zu outen. Nach jedem Lösungsschritt brauchte es das individuelle „Go“ vom Lehrer, um weiterzumachen. „Klausuren sind weniger defizitorientiert, wenn die Schülerinnen und Schüler selbst die Aufgaben auswählen können, die sie sich zutrauen“, erklärt Kirberger.

Für die Pandemie kam die Bildungscloud zu spät.

Im Lockdown allerdings entschied das Kollegium, nicht auf die noch in der Entwicklung befindliche NBC, sondern auf das Schülern und Lehrern schon vertraute System IServ zu setzen. „Für die Pandemie kam die Bildungscloud zu spät“, sagt Kirberger. Die Lösung, die das Evangelische Gymnasium gefunden hat: Die NBC wird zusätzlich zu IServ genutzt. In dieser Kombination kann die Schule die Stärken der NBC für den Unterricht und in der Vernetzung von Schulen und Lehrkräften optimal nutzen. Den digitalen Standard des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn und der IGS Lengede erreichen längst nicht alle Schulen.

Die Anfang Juni erschienene Studie „Digitalisierung im Schulsystem“ der Universität Göttingen zeigt: Nur die Hälfte der deutschen Schulen hat ein WLAN, das von allen genutzt werden kann. Ein Lernmanagementsystem ist in 47 Prozent der niedersächsischen Schulen im Einsatz. Ob eine Schule dazugehört, hängt am Engagement einzelner Lehrkräfte. Ira Diethelm weiß: „Es sind oft ein bis zwei Protagonisten an einer Schule, die die Digitalisierung voranbringen wollen. Dann ist die Frage: Finden sie Rückhalt bei der Schulleitung oder nicht?“ Christian Kirberger und Steffen Dreier, die diese Rolle in Nordhorn übernommen haben, haben einen Tipp, um Kolleginnen und Kollegen zu überzeugen: „Wenn man vorschlägt, ein neues System einzuführen, dann ist der Widerstand erstmal groß. Aber wenn man Beispiele zeigen kann, welche Lernfortschritte Schüler erzielen, dann werden die Kollegen neugierig.“

Von Anne Beelte-Altwig