Vor 60 Jahren: Wie der Landtag sich damals gegen den rechten Rand abgegrenzt hat
Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1959.
Was vor 60 Jahren geschah, im Jahr der Landtagswahl 1959, klingt vordergründig recht geordnet und routinemäßig: Nach vier Jahren wurde Heinrich Hellwege von der Deutschen Partei, der zweite Ministerpräsident Niedersachsens, im Amt wieder abgelöst. Ihm folgte sein Vorgänger, der „Landesvater“ Hinrich-Wilhelm Kopf von der SPD. Deutsche Partei und CDU, die einander sehr nahen, aber zu jener Zeit noch getrennten bürgerlichen Parteien, mussten die Regierung wieder verlassen. Was kam, war ein Bündnis aus Sozialdemokraten, Freien Demokraten und dem „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE). Eigentlich ein unspektakulärer Vorgang.
Doch die Vorgeschichte und die Begleitumstände machen diese Ereignisse schon zu einem Einschnitt in der Landesgeschichte. Zu verstehen sind die Entwicklungen kaum, wenn man nur auf Niedersachsen schaut und nicht zugleich auf die bundespolitischen Abläufe jener Zeit. Außerdem veränderte sich das Parteiensystem in jener Zeit rabiat. Stärker noch als SPD und CDU waren die kleinen Parteien in einem Entwicklungsprozess, der ihre Existenz in Frage stellte. Richtungskämpfe wurden offenkundig – und zugleich setzten rechtsextreme Kräfte, die nach 1945 zunächst unauffällig geblieben waren und nun im kalten Krieg der Systeme wieder forscher auftraten, auf mehreren Ebenen an, ihren Einfluss zu verstärken. Das hatte fatale Folgen für die Regierungsbildung.
Das Kanzleramt griff in die Landespolitik ein
Beginnen wir im Vorfeld der Landtagswahl 1955. In Hannover regierte Kopf mit einer Koalition aus SPD, BHE und Zentrum. Er galt als starker und populärer Ministerpräsident, bei der Wahl 1951 waren DP und CDU in einem gemeinsamen Wahlbündnis als „Niederdeutsche Union“ angetreten und hatten drastisch verloren, gleichzeitig erreichte die nationalsozialistische „Sozialistische Reichspartei“ elf Prozent – sie wurde kurze Zeit später vom Bundesverfassungsgericht verboten. Dominant war in jener Zeit die Bundespolitik, Kanzler Konrad Adenauer wollte die Politik der Westbindung durchsetzen – gegen eine damals in dieser Frage ablehnende SPD. Als im November 1954 bei der bayerischen Landtagswahl die CSU kräftig zulegte, doch gegen sie eine Koalition aus SPD, Bayernpartei und BHE gebildet wurde, schwante Kopf bereits Schlimmes: Er werde dafür demnächst wohl den Preis zahlen müssen, sagte Kopf im kleinen Kreis, wie die zeitgenössischen Autoren Helmut Beyer und Klaus Müller schrieben. Gemeint war die Zweidrittelmehrheit im Bundesrat, die Adenauer für seine West-Bindung (Beitritt zur Nato) benötigte. Da die Bayern ausfielen, wurde Niedersachsen als Bündnispartner gebraucht.
Vor der Landtagswahl 1955 schälte sich heraus, dass Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU) aus Oldenburg als charismatischer Politiker bereit war, Ministerpräsidenten-Kandidat zu werden. Doch im Herbst 1954 verstarb er, gerade mal 50 Jahre alt, an einem Herzinfarkt. Die Landtagswahl nahte, CDU und DP marschierten wieder getrennt und legten zusammen 14 Prozentpunkte zu, die SPD blieb unverändert stärkste Partei. Kopf versuchte, seine Macht zu retten. Er bot dem BHE-Spitzenkandidaten Friedrich von Kessel sogar den Ministerpräsidentenposten an, hieß es, er soll auch – schon vor der Wahl – mit einflussreichen CDU-Politikern über ein SPD/CDU-Bündnis gesprochen haben. Wie Beyer und Müller in ihrem Buch schildern, griff nach der Wahl aber das Kanzleramt in die Landespolitik ein. Adenauer habe über seinen Minister Hans Globke ausrichten lassen, es solle eine Koalition zwischen CDU, DP, FDP und BHE gebildet werden, ohne die SPD, und Bundesminister Heinrich Hellwege von der DP solle neuer Ministerpräsident werden. In der CDU Niedersachsen sei damals von einem „Kommandantur-Befehl“ aus Bonn die Rede gewesen, wird in zeitgenössischen Darstellungen berichtet.
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So geschah es, für Adenauer war die Bundesratsmehrheit gesichert. Hellwege, obwohl Vertreter nur der drittstärksten Partei im Landtag, wurde Ministerpräsident. Die Arbeit lief nicht reibungslos. Zu jener Zeit versuchten nationalistische Kräfte, vor allem in NRW und Niedersachsen, die FDP zu unterwandern. Der damals 34 Jahre alte Leonhard Schlüter, ein Verleger aus Göttingen mit der Neigung zu zugespitzten Attacken vor allem auf die SPD, wurde von der FDP als neuer Kultusminister durchgesetzt. Das führte zu Protesten, zu Rücktritten von Rektor und Senat der Göttinger Universität und zu heftigen Auseinandersetzungen im Landtag. Sie hielten den Minister für untragbar, da Schlüter einst zu den Gründern der rechtsextremen Deutschen Rechtspartei gehörte, weil er Bücher rechtsextremer Autoren verlegt hatte und in verschiedenen Reden sehr wenig Distanz zur NS-Zeit erkennen ließ – obwohl seine Mutter Jüdin war und verfolgt wurde. Zehn Tage blieb Schlüter im Amt, Hellwege kündigte erst eine interne Untersuchungskommission an, dann forderte die SPD einen Untersuchungsausschuss – und der Fall machte bundesweit Schlagzeilen. Ziemlich bald erkannte Schlüter, dass er die neue Regierung belastete, und er trat zurück.
Unstimmigkeiten im bürgerlichen Lager
Es gab noch mehr Vorwürfe: Einige Staatssekretäre aus SPD-Zeiten, die vor 1945 zu den politisch Verfolgten zählten, sollten durch NS-Belastete ersetzt werden, unter anderem durch einen früheren Ministerialdirektor in Goebbels Reichspropaganda-Ministerium. Nach Schlüters Rücktritt kriselte es in der Regierung. In der DP brach ein heftiger Streit darüber aus, ob man sich mit der CDU zusammenschließen oder – im Gegenteil – sich stärker von der CDU distanzieren solle. Der BHE, um seine Existenz besorgt, schloss sich im Landtag mit der FDP-Fraktion zusammen. Dass diese 29 Abgeordneten sechs Mandatsträger der rechtsextremen „Deutschen Rechtspartei“ als Hospitanten aufnahmen, verstimmte DP und CDU so sehr, dass sie die Koalition zerbrechen ließen. 1957 wurde für die restlichen zwei Jahre der Wahlperiode ein Bündnis von DP/CDU und SPD gebildet, Kopf wurde unter Hellwege Innenminister – und die Arbeit lief, wie Müller und Beyer schreiben, weit harmonischer als zuvor.
Eigentlich hätte die Große Koalition wohl nach der Landtagswahl 1959 fortgesetzt werden können. Entsprechende Gespräche gab es auch, und sowohl Hellwege als auch CDU-Spitzenkandidat Werner Hofmeister signalisierten dazu öffentlich ihre Bereitschaft. Aber dann kam Verwirrung auf, es wurde geredet über eine Rückkehr zu einem bürgerlichen Bündnis. In der DP soll es jedoch Vorbehalte gegen den christdemokratischen Ministerpräsidenten-Kandidaten Werner Hofmeister gegeben haben. Klare Anweisungen aus Bonn, wie noch 1955, gab es 1959 nicht mehr. Adenauer selbst war inzwischen in einer viel schwächeren Rolle als noch vier Jahre zuvor. Die Unstimmigkeiten im bürgerlichen Lager in Hannover nutzte der gewiefte Stratege Kopf und schmiedete still und heimlich eine neue Regierung von SPD, BHE und FDP. Diese hielt immerhin vier Jahre. (kw)