Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1989.

Dass die Zeit von Ernst Albrecht als Ministerpräsident sich im Jahr 1989 dem Ende zuneigen würde – viele hätten es nicht erwartet. Zu sicher und unangefochten hatte er die vergangenen Landtagswahlen überstanden, 1986 auch souverän gegen den Herausforderer Gerhard Schröder. Aber Albrecht, im Jahr 1989 erst 59 Jahre alt und schon 13 Jahre lang Ministerpräsident, gab im Wahlkampf für 1990 selbst ein Signal, das viele Parteifreunde für einen Fehler hielten.

Er startete mit der Ansage im Wahlkampf, die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth solle „in einigen Jahren“ neue Ministerpräsidentin in der Staatskanzlei werden. Was als Wahlkampfcoup gemeint war, zündete nicht wie erhofft – die Landtagswahl 1990 ging verloren. Vielleicht auch deshalb, weil Albrecht mit der Ansage, gewollt oder ungewollt, eine gewisse Amtsmüdigkeit ausstrahlte?


Lesen Sie auch:

Vor 40 Jahren: Die Grünen betreten die politische Bühne des Landes

Vor 50 Jahren: Die SPD in Niedersachsen erlebt einen radikalen Generationswechsel


In den letzten Jahren der Albrecht-Zeit gab es immerhin einige Skandale, von Spielbanklizenzen über Unregelmäßigkeiten beim Verfassungsschutz bis hin zu einem Rechtsabweichler, Kurt Vajen, der die CDU-Landtagsfraktion verlassen musste. Wilfried Hasselmann, CDU-Landeschef und die wesentliche Identifikationsfigur der Partei, musste als Innenminister zurücktreten. Aber 1989 war dann doch ein Jahr, das durch andere Schlagzeilen in Erinnerung bleiben sollte – bundesweit wie auch speziell in Niedersachsen. Vorwiegend junge Menschen in der DDR flüchteten in die Botschaften in Budapest und Prag, sie wollten in den Westen. Im Spätsommer schließlich durften sie ausreisen, und mit Bussen waren die Menschen unterwegs nach Niedersachsen.

Symbiose zweier Ereignisse: Bundesparteitag und Botschaftsflüchtlinge

Am 13. September 1989 gingen zwei verschiedene politische Ereignisse eine merkwürdige Symbiose ein – sie waren beide bedeutend für die Landespolitik und für den Ministerpräsidenten Albrecht. Die ersten Botschaftsflüchtlinge aus der DDR wurden in Niedersachsen erwartet, mit Bussen kamen sie über Bayern in den Norden, in einem kleinen Aufnahmelager in Liebenau (Kreis Nienburg) sollten sie empfangen werden.

Für die Nacht war die Ankunft erwartet worden, Ministerpräsident Albrecht hatte sich fest vorgenommen, die Gruppe auch persönlich zu begrüßen. Aber der CDU-Politiker hatte noch einen weiteren wichtigen Termin im Kalender, er musste nach Bremen zum CDU-Bundesparteitag. Ein Aufstand der Gruppe um Heiner Geißler und Lothar Späth gegen Parteichef und Kanzler Helmut Kohl stand an – und die politischen Regisseure von Kohl waren seinerzeit mehr als zufrieden darüber, dass just rund um den Bundesparteitag die ersten Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik kommen sollten.

Das gab Kohl die Gelegenheit, sein weltpolitisches Profil zu schärfen und seinen parteiinternen Kritikern, die innenpolitische Reformen vermissten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Albrecht, der mit den Kohl-Kritikern sympathisiert haben soll, hätte wohl gern folgenden Ablauf gesehen: In der Nacht kommen die Flüchtlinge in Liebenau an, danach fährt der Ministerpräsident nach Bremen und sondiert in aller Ruhe mit seinen Getreuen die Lage – und erlebt dort den Wechsel von Kohl zu Späth.

Weltpolitische Ereignisse überrollten parteipolitische Taktieren

Es kam alles anders. Der Ministerpräsident und mit ihm eine Gruppe von Journalisten wartete und wartete in Liebenau. Es wurde Mitternacht, 1 Uhr, 2 Uhr und 3 Uhr. Irgendwann in der Frühe dann verlor Albrecht die Geduld und brauste Richtung Bremen. Ein Handy, das den Standort des Busses mit den 28 DDR-Flüchtlingen hätte jederzeit melden können, gab es noch nicht, der Informationsfluss war spärlich.

Dann aber, Albrecht war gerade losgefahren, kam die Nachricht vom nahenden Reisebus. Der übernächtigte Ministerpräsident kehrte wieder um, begrüßte die weitgereisten Botschaftsflüchtlinge herzlich, hielt eine schöne Rede und fuhr erst danach, viel zu spät, zum Parteitag. Dort, bei der CDU, waren die geflüchteten Menschen aus der DDR längst das große Thema, über Kohls angebliche Führungsschwächen sprach keiner mehr. Wenn Albrecht und seine Getreuen in diesen Tagen wirklich ernsthaft den Sturz des Kanzlers geplant haben sollten, waren sie von den weltpolitischen Ereignissen, die sich auch in Niedersachsen abspielten, überrollt worden.


Lesen Sie auch:

Vor 60 Jahren: Wie der Landtag sich damals gegen den rechten Rand abgegrenzt hat

Vor 70 Jahren: Warum Hannover keine Fusion mit Großbritannien einging


Albrecht kann man abnehmen, dass für ihn die deutsche Einheit ein großes Anliegen war. Ein Jahr später war er nicht mehr Ministerpräsident, aber er engagierte sich in mehreren Firmen, unter anderem in Thale im Harz, für das Zusammenwachsen von Ost und West. Und die Neubildung des Landes Sachsen-Anhalt, die zeitlich nicht weit weg war von der Neubildung der rot-grünen Landesregierung in Hannover, bot eine ganz besondere Chance: Viele Spitzenkräfte von Christ- und Freidemokraten, sowohl Politiker wie Beamte, die in Hannover nun nicht mehr gebraucht wurden oder nicht mehr unter Rot-Grün arbeiten wollten, wechselten nach Magdeburg – denn dort wurde eine neue CDU/FDP-Regierung gebildet.

Dass dieser West-Ost-Transfer, ein Gegensatz zum Ost-West-Transfer bei den jungen Flüchtlingen, am Ende zu atmosphärischen Störungen führen würde, war 1989 und 1990 noch nicht absehbar. Das gipfelte dann in der sogenannten „Gehälteraffäre“, in der es um den Vorwurf ging, sehr gut bezahlte West-Politiker würden Spitzenpositionen im Osten einnehmen – obwohl sie doch mental vom Osten weit entfernt seien. (kw)