Die Landesregierung muss eine herbe Niederlage vor dem Verwaltungsgericht Hannover einstecken: Gestern bekam der Rechtsanwalt Arne Ritter aus Laatzen (Region Hannover) Recht, der sich über die seit Januar betriebenen automatischen Strecken-Radarmessungen auf der Bundesstraße 6 zwischen Rethen und Gleidingen beschwerte. Das Gericht entschied, dass diese Geräte jedes Auto, das von dem Rechtsanwalt gesteuert wird, nicht mehr erfassen darf – da es sich bei dem System um einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung aller dort verkehrenden Autofahrer handele. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil müssen die Radarmessungen aufhören.

Ausgebremst: Das Verwaltungsgericht entscheidet gegen die Pläne des Innenministeriums – Foto: Stockwerk-Fotodesign

Zwar sind Grundrechtseingriffe aus Sicht der Richter prinzipiell zulässig, dann aber benötige man dafür eine sichere Rechtsgrundlage. Das Innenministerium hatte in der Gerichtsverhandlung argumentiert, mehrere gesetzliche Generalklauseln müssten als vorübergehende Rechtsgrundlage bis zum Landtagsbeschluss über das neue Polizeigesetz ausreichen. Das allerdings sehen die Richter anders, die Schwere des Vorgangs erfordere unbedingt eine klare gesetzliche Grundlage. Sie stimmen damit Ritter zu und mit ihm der Landesdatenschutzbeauftragten, die sich an seine Seite gestellt hatte. Es ist allerdings Berufung zugelassen, der Fall wird also demnächst vor dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg landen. Bis dahin aber muss die Anlage stillgelegt werden.


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Die Strecken-Radarmessungen (im Fachbegriff „Section-Control“) sind ein bundesweit einmaliges Projekt, das bisher ausschließlich auf der B6 zwischen Rethen und Gleidingen läuft. Angeblich passieren täglich bis zu 14.000 Autos diese Strecke, die von der Polizei als Unfallschwerpunkt eingestuft wird. 2014 war der Bau der Anlage entschieden worden, Mitte Januar dieses Jahres hat Innenminister Boris Pistorius den Betrieb förmlich gestartet.

Der Plan ist, all jene Autos herauszufischen, die auf der 2,2 Kilometer langen Strecke zwischen den beiden Orten die Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern überschreiten. Das funktioniert nun so: An der ersten Messstelle wird das Auto fotografiert, das Kennzeichen wird vorübergehend gespeichert. Gleiches geschieht an der zweiten, 1200 Meter entfernten Messstelle. Hat der Wagen diese aber zu früh erreicht, weil er zu schnell unterwegs war, so wird der Wagen ein weiteres Mal fotografiert, dann von vorn mit Blick auf den Fahrer. Der Halter erhält anschließend, wie bei jeder anderen Blitzmessung, einen Bußgeldbescheid. Die Fotos und Daten aller anderen Autofahrer, die nicht zu schnell gefahren sind, sollen dann sofort wieder vernichtet werden.

Die einen halten die scharfe Kontrolle von Verkehrsregeln für unbedingt nötig, die anderen sehen den Beginn eines verkehrsrechtlichen Total-Überwachungsstaates

Radarmessungen sind zur Verkehrssicherheit nötig, sagt der Vorsitzende Richter Michael Rainer Ufer. Normalerweise wird aber der Blitz erst ausgelöst, wenn der Verstoß schon begangen wurde. Hier sei es aber anders: Im ersten und im zweiten Schritt werden sämtliche Fahrzeuge fotografiert und zumindest für eine Minute (also die Distanz einer Autofahrt zwischen beiden Messpunkten), wenn nicht gar länger gespeichert. Das betrifft auch alle Wagen derer, die sich korrekt verhalten haben. Dies sieht das Gericht als schwerwiegenden Eingriff in den Datenschutz, weil auch Daten der Nicht-Raser kurzzeitig festgehalten werden. Erschwerend komme hinzu, dass die Hinweisschilder erst so spät sichtbar werden, dass ein Autofahrer dann nicht mehr auf eine Alternativroute ausweichen kann.

Das Urteil fällt jetzt vermutlich deshalb so streng aus, weil das Bundesverfassungsgericht vergangenen Dezember in einem anderen Fall, die Kennzeichen-Lesegeräte betreffend, strenger als bisher entschieden hatte. „Die einen halten die scharfe Kontrolle von Verkehrsregeln für unbedingt nötig, die anderen sehen den Beginn eines verkehrsrechtlichen Total-Überwachungsstaates“, erläuterte Richter Ufer. Wenig überzeugend war für das Gericht das Argument des Innenministeriums, man habe ja nur ein Pilotverfahren, mit dem das System erprobt werde. „Nach Ende des Verfahrens dürfte sich aber am Betrieb der Anlage nicht viel ändern“, entgegnete Volker Klauke, Vertreter der Datenschutzbeauftragten.

Die Ignoranz von Bürgerrechten und Datenschutz zieht sich wie ein roter Faden durch die Innenpolitik der Großen Koalition.

Nach dem Richterspruch erklärte Jörg Bode (FDP), das Innenministerium habe „eine peinliche und krachende Niederlage“ erlitten. Belit Onay (Grüne) meinte: „Die Ignoranz von Bürgerrechten und Datenschutz zieht sich wie ein roter Faden durch die Innenpolitik der Großen Koalition.“ „Section-Control“ sorgt daneben noch für anderen Ärger.

Die FDP-Fraktion hatte vergangene Woche geplant, entlang der B6 in dem Bereich ein Großflächenplakat aufzustellen. Dies habe, wie die FDP berichtet, die Straßenverkehrsbehörde kurzfristig aus Sicherheitsgründen verhindern wollen. Statt aber mit der FDP über den Standort zu verhandeln, habe die Straßenverkehrsbehörde das am Tag zuvor angelieferte Schild einfach demontiert und am Folgetag nur deshalb nicht beseitigen können, weil die FDP-Vertreter früher als geplant vor Ort waren. Gleichzeitig gebe es aber den Verdacht, die Landesregierung habe die Koalitionsfraktionen über die geplante Polizeiaktion vorab informiert. In einem Schreiben an Pistorius will FDP-Landeschef Stefan Birkner nun Aufklärung über die genauen Vorgänge zu diesem zunächst recht banalen Polizeieinsatz. Er meint, dass nicht der Verdacht entstehen dürfe, das Innenministerium unterbinde die freie Meinungsäußerung – auch wenn es lediglich um die Geschwindigkeitsmessung auf der B6 gehe.