6. Juni 2018 · 
Kommentar

Unterschiede bei der Inklusion? Was ist daran eigentlich so schlimm?

Darum geht es: Der Landesrechnungshof hat bei der Umsetzung der Inklusion große regionale Unterschiede festgestellt. Hinzu kommt, dass die Inklusionsquote vor allem an Hauptschulen stark gestiegen ist. Ein Kommentar von Martin Brüning. Disparitäten könne man nicht laufen lassen, sondern man müsse gegensteuern, sagte Hermann Palm, Senator des Landesrechnungshofs, gestern bei der Vorstellung des Jahresberichts. Die landesweiten Disparitäten sind in der Tat enorm. Während im Landkreis Gifhorn 81 Prozent der Kinder mit Unterstützungsbedarf an eine Regelschule gehen, sind es in der Stadt Osnabrück gerade einmal 27 Prozent. Der niedersächsische Durchschnitt liegt bei etwa 50 Prozent. Auch die Unterschiede bei den Schulformen sind deutlich. Während die Hauptschulen das Gros der Inklusion in den Regelschulen übernehmen, haben Gymnasien und Realschulen mit der Inklusion bisher so gut wie überhaupt nichts zu tun. https://soundcloud.com/user-385595761/rechnungshof-warnt-hauptschulen-werden-die-neuen-forderschulen „Bedenklich“ nennt der Rechnungshof in seinem Jahresbericht diese Entwicklung. Aber ist sie das wirklich? Zunächst einmal bilden die Zahlen im Bericht lediglich die Wirklichkeit ab. Und die ist nun einmal genauso vielfältig wie das ganze Bundesland. Inklusion ist nicht Mathematik und deshalb lässt sich die Entwicklung nicht simpel mit einer Geradensteigung abbilden. Das Kultusministerium räumt selbst ein, dass die Inklusion an den allgemeinbildenden Schulen in den verschiedenen Regionen Niedersachsens unterschiedlich weit fortgeschritten sei. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten. Dies hat etwas mit den Entwicklungen und Denkmustern in einzelnen Regionen zu tun, aber auch mit der konkreten Entscheidung der Eltern. Sie wollen im Regelfall das Beste für ihr Kind. Offensichtlich entscheiden sich viele für die Hauptschule und nur sehr wenige für das Gymnasium. Aber warum sollte man das problematisieren? Soll man nun mehr Eltern ermutigen, ihre Kinder auf das Gymnasium zu schicken, damit die Statistik ausgeglichener wirkt? Das ist eine Denkweise des „Was nicht passt, wird passend gemacht“ - und damit genau das Gegenteil dessen, was in einer modernen Gesellschaft gewünscht wird: möglichst individuelle Lösungen. Auffällig ist auch, dass viele Eltern für ihre Kinder immer noch die Förderschulen als wertvolle Einrichtungen wahrnehmen und für ihre Kinder anwählen, teilweise steigen die Zahlen sogar. Darüber sollten alle, denen die Abschaffung von Förderschulen gar nicht schnell genug gehen kann, noch einmal ideologiefrei nachdenken. Fast 400 Millionen Euro kostet das Parallelsystem aus Förder- und Regelschulen, hat der Rechnungshof ausgerechnet. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen fordert deshalb, diesen „kostspieligen und unsinnigen Irrweg“ rasch zu beenden. Angesichts relativ stabiler Anmeldezahlen in den Förderschulen „Sprache“ und „Emotionale und Soziale Entwicklung“ ist aber nicht klar, ob das wirklich im Sinne der Eltern ist. Und auch zahlreiche Lehrer, denen schon das aktuelle Tempo bei der Einführung der Inklusion zum Teil hohe Belastungen zumutet, dürften Zweifel haben, ob sich eine Verschärfung des Tempos positiv auf ihren Arbeitsalltag auswirken würde. Man kann durchaus die Frage stellen, ob sich die GEW eher selbst an ihrer politischen Linie festgenagelt hat, anstatt die Interessen ihrer Mitglieder konsequent zu vertreten. Dennoch muss die Politik aus den Zahlen natürlich ihre Schlüsse ziehen. Gleichwertige Lebensverhältnisse im Land bedeuten, dass allen Kindern und Eltern zumindest im Ansatz die gleichen Möglichkeiten zur Verfügung stehen müssen. Die hundertprozentige Gleichheit wird man, allein schon in Stadt und Land, niemals erreichen können. Und sie sollte auch nicht gewünscht sein. Denn die Entscheidung vieler Eltern im Kreis Cloppenburg kann anders ausfallen als in Gifhorn oder Uelzen, und es muss nicht die schlechtere Entscheidung sein. Wer sich aber zum Beispiel für eine Förderschule oder eine Hauptschule entscheidet, sollte das im Nachhinein nicht bereuen müssen. Dies lässt sich zum Beispiel erreichen, indem man durch klare Entscheidungen die Unsicherheit bei den Förderschulen minimiert und die Hauptschulen vernünftig ausstattet. Warum sollte die Hauptschule nicht die neue Förderschule sein? Mit der entsprechenden Ausstattung wäre auch das möglich. Die Politik hat durch Steuerung mehr Kinder auf die Gymnasien und auf die Hauptschulen gelenkt. Beide Entwicklungen führen zu neuen Disparitäten. Diese kann man durchaus laufen lassen. Man muss lediglich die Systeme entsprechend ausstatten. Mail an den Autor dieses Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #106.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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