TÜV Nord denkt über die Gründung einer eigenen Hochschule nach
Der Arbeitskräftemangel ist auch beim TÜV Nord angekommen. „Das Gerangel um Fachkräfte trifft uns sehr“, sagte die Personalverantwortliche Astrid Petersen am Mittwoch in Hannover. Vor allem bei der IT-Sicherheit, aber auch bei der Energietechnik sowie aufkommenden Berufen wie den Datenwissenschaftlern und Experten für Künstliche Intelligenz kommt der Technologiedienstleister immer schwerer an Nachwuchs heran. Probleme kündigen sich auch im Bereich Kerntechnik an, wo TÜV Nord den Rückbau deutscher Atommeiler begleitet und weiterhin den Betrieb von Atommeilern im Ausland überwacht. „Es gibt in Deutschland aber keinen Studiengang mehr dazu“, stellte Petersen fest. Der Konzern stelle sich deshalb die Frage: „Müssen wir das künftig selber machen, was andere nicht mehr für uns anbieten?“ Anders ausgedrückt: „Wir denken darüber nach, eine eigene Hochschule aufzubauen oder in bestimmten Bereichen mit anderen Hochschulen zu kooperieren.“
Laut Petersen wäre eine Kooperation zwar das einfachere Modell. Vorstandschef Dirk Stenkamp zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass sein Konzern den Aufbau einer eigenen Hochschule stemmen könnte. „Das Format liegt gar nicht so fern, weil wir mit der TÜV-Nord-Academy schon genau dieses Feld bespielen“, sagte Stenkamp. Die konzerneigene Weiterbildungseinrichtung bietet jährlich rund 4500 Seminare zu 460 Themen von der Abfallwirtschaft bis zur Werkstoffkunde an. Petersen ergänzte, dass die Weiterbildung von Hochschulabsolventen in Spezialbereichen wie etwa der Cybersicherheit bei TÜV Nord schon jetzt zum Tagesgeschäft gehöre. Das Weiterbildungsbudget des Konzerns belaufe sich auf 10,5 Millionen Euro pro Jahr.
Außerdem könne das Unternehmen durch die Hochschulausbildung die künftigen Beschäftigten noch früher an sich heranziehen, was zu der bisherigen Strategie der Mitarbeiterbindung passt: Die Übernahmequote bei Auszubildenden und dual Studierenden liegt bei 94 Prozent, die Fluktuationsquote der weltweit 14.000 Beschäftigten ist mit 4,5 Prozent äußerst niedrig. Wo eine solche Hochschule ihren Standort haben könnte, ließ Petersen offen. „Grundsätzlich könnte sie überall entstehen, heutzutage wird ja viel digital gemacht und nicht mehr nur in Präsenz. Deutschland ist für uns hier aber vorrangig“, sagte die Personalchefin. Weitere Details verriet sie nicht, kündigte jedoch eine Entscheidung noch für 2023 an.
Rekordumsatz trotz Krisenjahr
Wie auch andere Großunternehmen aus Niedersachsen verkündete TÜV-Nord-Chef Stenkamp gestern einen neuen Rekordwert beim Umsatz, der auf knapp 1,5 Milliarden Euro stieg (plus 6 Prozent). Der Bruttogewinn (Ebit) wuchs von 73,3 auf 78,9 Millionen Euro. Während sich das Wachstum im Inland in Grenzen hielt, legte das Auslandsgeschäft um rund 20 Prozent zu. Fast jeden dritten Euro setzt TÜV Nord mittlerweile außerhalb der Bundesrepublik um. „Wir werden Stück für Stück immer internationaler“, sagte Finanzvorstand Jörg Himmelsbach. Die Kassenlage des Technologiedienstleisters bezeichnete er als „grundsolide“. „Wir haben keine Bankdarlehen und eine Eigenkapitalquote von 30 Prozent“, so der CFO.
TÜV will Fahrzeugdaten haben
Die Sicherstellung der Energieversorgung und die Energiewende nannte Stenkamp als zwei der wichtigsten Geschäftsfelder seines Konzerns. TÜV Nord will aber auch die Mobilitätswende vorantreiben. Neu im Leistungsportfolio der insgesamt 86 Konzerngesellschaften ist ein Pilotprojekt, das eine Zustandsbewertung von Hochvoltbatterien direkt über das Ladekabel ermöglicht. Bei Elektrofahrzeugen könnte dieses Verfahren künftig einen ähnlichen Stellenwert haben wie die Abgasuntersuchung beim Verbrenner, meinte der CEO. Außerdem verlangte Stenkamp den Zugang zu Fahr- und Fahrzeugdaten. Bisher werden diese Daten von den Fahrzeugherstellern gehortet.
Aus Sicht des TÜV-Nord-Chefs wären sie aber besser in einem herstellerunabhängigen „Trust-Center“ aufgehoben, das von einer neutralen Stelle verwaltet wird, die auch die Datensouveränität der Autofahrer garantiert. „Wir fordern einen datenschutzkonformen Zugang zu digitalen Fahrzeug- und Fahrdaten für Prüforganisationen, Versicherungen und Behörden“, sagte Stenkamp. Dadurch könnten beispielsweise digitale Komponenten bei der Hauptuntersuchung überprüft oder Haftungsfragen bei Unfällen geklärt werden, wie etwa die Frage: „Wer ist eigentlich gefahren? War es der Autopilot oder der Mensch selber?“
Dieser Artikel erschien am 30.03.2023 in der Ausgabe #059.
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