Es ist Neuland, auf das sich die Richter des Staatsgerichthofs am Montag vorgewagt haben: Der Niedersächsische Landkreistag (NLT) als oberste Vertretung der 38 niedersächsischen Landkreise fühlt sich vom Landtag in seinen Rechten verletzt – denn im September 2022 hatte der NLT nur fünf Tage Zeit für eine Stellungnahme zu einem sehr komplizierten Gesetz der damaligen Großen Koalition. Üblich sind für derartige Schritte sonst mindestens sechs Wochen. Neuland wird mit dem Streit deshalb betreten, da der NLT bisher nicht als eigenes Organ der Landkreise anerkannt ist – es also fraglich ist, ob er überhaupt eine Verletzung seiner Rechte in der Verfassung geltend machen darf.

Es ging in dem umstrittenen Gesetz von 2022 um die Frage, in welcher Weise sich die Kommunen verschulden dürfen angesichts der aktuellen Krisensituation. Der NLT lehnte das Gesetzesvorhaben seinerzeit strikt ab, dennoch wurde es in der letzten Landtagssitzung vor der Landtagswahl durchgepeitscht. Der Niedersächsische Städtetag (NST) hingegen war seinerzeit nicht nur für das Gesetz, sondern er hatte die neue Vorschrift der Regierungskoalition sogar selbst vorgeschlagen.
In einer zweieinhalbstündigen Verhandlung vor dem Staatsgerichtshof ging es am Montag um bedeutende Details. Hier die wichtigsten Schlaglichter der Diskussion:

NLT sieht Belastung der nächsten Generationen: Das Gesetz von 2022 sieht vor, dass die Kommunen die Kosten „für die Bewältigung des Ukraine-Krieges“ gesondert ausweisen müssen – und die Schulden dafür nicht wie üblich in maximal sechs, sondern in bis zu 30 Jahren abgebaut werden sollen. Diese Vorschrift läuft bis Juni 2024. Prof. Hubert Meyer vom NLT sagt, die Vorschrift öffne „die Tür, um Schulden an die nächste Generation durchzureichen“. Gleichzeitig könnten Landräte ihren Kreistagen nicht mehr nahelegen, Sparkonzepte zu entwerfen. „Sofort kommt der Hinweis, dass man doch als Ausweg neue Schulden wählen kann.“ Hinzu komme mit dem gleichen Argument der Druck von den Gemeinden auf den Kreistag, man möge doch die Kreisumlage senken. Prof. Thomas Mann, Prozessvertreter des NLT, drückt es drastisch aus: „Das Land hält die Schuldenbremse ein, treibt die Kommunen in die Verschuldung und bittet gleichzeitig die eigene Kommunalaufsicht, bei der Kontrolle der Kommunalhaushalte nicht so genau hinzuschauen.“ Alle 38 niedersächsischen Kreise haben gegenwärtig rote Zahlen in ihren Etats, das Defizit häuft sich an auf 750 Millionen Euro. Allerdings hat von den sieben Kreisen, die in der Verhandlung in Bückeburg dabei waren, keiner die neue Vorschrift von 2022 angewandt. „Wir taten das nicht, da wir Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes hatten“, erklärt NLT-Präsident Sven Ambrosy.

Ist der NLT ein Organ? In der extrem kurzen Frist, die der NLT für seine Stellungnahme zum Gesetzentwurf hatte, sieht der Verband eine Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte. Laut Prof. Mann geht das kommunale Recht auf den NLT über, da nie alle Landkreise gefragt werden können, sondern immer nur ihr Verband als Repräsentant. Das sei so wie bei den Fraktionen, die auch stellvertretend für die ihr angehörenden Abgeordneten handeln können. Der Parlamentsjurist Christian Wefelmeier als Vertreter des Landtags widerspricht: Schon als der Landtag die Pflicht zur Anhörung der Kommunen in die Verfassung geschrieben hatte, habe er verhindern wollen, dass eine Verletzung der Anhörungspflicht zur Nichtigkeit des Gesetzes führt. Der NLT sei als Interessensverband der Landkreise ein Verein, aber kein eigenes Organ. Wenn Kommunen in ihren Rechten verletzt werden, könnten sie selbst eine kommunale Verfassungsbeschwerde in Bückeburg einreichen – das könne an ihrer Stelle aber nicht der NLT. Auf Bundesebene habe das Bundesverfassungsgericht nur zwei Institutionen eine starke Stellung als Organ eingeräumt, die eigene Rechte geltend machen können. Das eine seien die Parteien, das andere seien die einzelnen Abgeordneten.
Zweifel des Gerichts: In Nachfragen des Staatsgerichtshof-Präsidenten Wilhelm Mestwerdt und des Berichterstatters Hermann Butzer wird deutlich, dass Zweifel an der NLT-Klage bestehen, die ihrerseits von einer Verfassungsbeschwerde von acht Landkreisen unterstützt wird. Zwar hatte der NLT damals nur eine Frist von wenigen Tagen, vom 1. bis 6. September 2022. Aber der Plan für die Gesetzesänderung lag in Details schon Ende August vor, entwickelt vom Niedersächsischen Städtetag (NST). Und die Landtagsentscheidung über das Gesetz war dann erst am 21. September. Hätte man in der Zwischenzeit nicht genügend Zeit für eine NLT-Stellungnahme gehabt, zumal es ja nur um die Beteiligung des Präsidiums ging? Hätte man nicht andere Wege der Einwirkung nehmen können? NLT-Hauptgeschäftsführer Meyer widerspricht: Mehrfach habe der NLT angeboten, mit der Reform noch ein paar Wochen zu warten – bis nach der Konstituierung des neuen Landtags. „Die Eilbedürftigkeit in der Sache, die behauptet wurde, bestand in dieser Zeit doch gar nicht.“ Doch die damalige SPD/CDU-Koalition habe sich auf diesen Weg nicht eingelassen.


