Unter „Abfeiern“ kann ich mir etwas vorstellen. Unter „Abtanzen“ auch. Es scheint irgendetwas mit Ekstase zu tun zu haben. Aber was ist „Absingen“? Das Wort hatte ich jahrzehntelang nicht gehört – und jetzt taucht es gefühlt dauernd auf. Immer dort, wo Journalisten dieses Phänomen beschreiben: Leute, die eben noch den Eindruck machten, als wollten sie nur einen netten Abend zusammen verbringen, fangen an, menschenverachtende Parolen zu einem alten Hit zu grölen. Wenn man sie darauf anspricht, sagen sie, das sei irgendwie ironisch gemeint.

Das Absingen könnte man ruhig wieder dem Nachtwächter überlassen. | Foto: GettyImages/Bettina_M


„Absingen“ ist ein altes Wort. Der Nachtwächter hat früher die Stunden abgesungen, also den Leuten vorgesungen, was die Stunde geschlagen hat. Man kann etwas vom Blatt absingen, ohne vorher zu üben. Oder man kann ein Lied bis zum Ende durchziehen, gewissenhaft, aber auch ein bisschen lieblos, so wie in „abarbeiten“. Vor langer Zeit habe ich die Redewendung „unter Absingen schmutziger Lieder“ zuletzt gehört. Das scheint mir den Kern hier am ehesten zu treffen. Schmutzig sind die Parolen ganz offensichtlich. Wer die Redewendung mit den schmutzigen Liedern benutzt hat, hat damit oft angedeutet, dass jemand geht und den Zurückbleibenden den Mittelfinger zeigt. Das scheint mir ganz gut zu dem Party-Phänomen zu passen, mit Rassismus zu kokettieren: Mittelfinger raus gegen „woke“ Mittelschicht-Normen, im Luxus-Club oder auf dem Schützenfest.

Rundblick-Chefredakteur Klaus Wallbaum im Gespräch mit Linken-Chef Martin Schirdewan. | Foto: Kajo Tetzlaff

Was uns zu der Frage bringt: Wo ist eigentlich die Mitte und wo fängt außen an? Im Rundblick-Interview stellt Martin Schirdewan, der Vorsitzende der geschrumpften Linkspartei, klar: Seine Partei ist Teil des Systems – eines nun zerbröselnden Parteiensystems –, während die Abtrünnigen, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), zusammen mit der AfD die Populisten sind. Schirdewan erwartet von der CDU, sich zum „demokratischen Lager“ zu bekennen. Womit er meint, die Blockadehaltung seiner Partei gegenüber aufzugeben. Ob es der Linken gelingen wird, ein Stück weiter in die politische Mitte zu rücken, während Wagenknecht an den Rändern unterwegs ist, bleibt allerdings abzuwarten.  
 
Wenn das Absingen fast beendet ist, kommt der Abgesang. Dann wissen alle, dass die Party vorbei ist. Im schlimmsten Fall folgt auf den Abgesang direkt der Untergang – zumindest, wenn es mit melancholischen Poetinnen und Poeten durchgeht.  
 
Soweit würden wir im Rundblick nicht gehen. Aber etwas rustikaler geht es in der heutigen Ausgabe schon zu:
 
·      Hardliner bevorzugt? Das Landwirtschaftsministerium irritiert mit Personalentscheidungen.
·      Jeder Schuss ein Treffer – zumindest beim Glasfaserausbau in Niedersachsen.
·      Druck vor der Synode: Kirchenbeschäftigte fordern einen „Kulturwandel“.
 
Ich wünsche Ihnen einen Mittwoch ohne Abgesänge – schon gar nicht auf die Demokratie!
Ihre Anne Beelte-Altwig