Wenn heute das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu dem im März 2023 beschlossenen Bundestagswahlrecht spricht, könnten die Folgen enorm sein. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Richter die Änderung eines im deutschen Wahlrecht seit Jahrzehnten bewährten und öffentlich kaum umstrittenen Instruments anmahnen werden – die sogenannte „Fünf-Prozent-Hürde“. Diese gilt für Bundestagswahlen seit 1953 und in Niedersachsen bei Landtagswahlen auch schon etliche Jahrzehnte. Die Regelung besagt, dass eine Partei nur dann Abgeordnete in das Parlament entsenden darf, wenn sie im Zweitstimmenresultat mindestens 5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht hat. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass zu viele Vertreter kleiner Parteien ins Parlament kommen und so die Mehrheitsbildung erschwert wird. Ein solcher Effekt wird etwa bei Kommunalwahlen beobachtet, da es in manchen Räten von Großstädten oder Kreistagen eine bunte Vielfalt an Parteivertretern gibt, die sich nicht auf eine Zusammenarbeit verständigen können. Nun hat das Bundesverfassungsgericht zwar 1990 die Verfassungsmäßigkeit der Fünf-Prozent-Hürde bestätigt mit dem Argument, die Funktionsfähigkeit des Parlaments sei wichtiger als die Abbildung der Vielfalt der politischen Strömungen. Doch es scheint fraglich, ob diese Position von den höchsten Richtern diesmal auch wieder vertreten wird.

Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe |Foto: GettyImages-Clarini

Bei der Bundestagswahl 2013 beispielsweise waren mehr als 15 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen nicht im Bundestag vertreten. Das lag damals daran, dass sowohl die FDP als auch die AfD recht knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Gemeinsam mit anderen, etwa den Piraten, bildeten die nicht im Bundestag vertretenen Listen damals ein großes Reservoir an Stimmen. Schon damals rügten Politologen, die Nicht-Repräsentanz einer so großen Gruppe im Parlament sei verfassungsrechtlich bedenklich. Dieser Effekt könnte sich nun, nach der 2023 von der Ampel-Koalition beschlossenen Wahlrechtsreform, noch verstärken. Zum einen sieht diese Reform vor, dass nicht mehr sämtliche Wahlkreis-Gewinner automatisch im Bundestag sitzen. Eine Partei soll nur noch so viele Mandate erringen können, wie ihr laut Zweitstimmenergebnis zustehen. Erringt sie mehr Wahlkreise als diese Zahl der Mandate, dann würden jene Wahlkreissieger mit den schlechtesten Resultaten nicht mehr in den Bundestag einziehen. Zum anderen wird mit der Reform festgelegt, dass die bisherige Ausnahme wegfällt – bisher nämlich konnte eine Partei auch dann ihre Mandate im Bundestag erhalten, wenn sie zwar bei den Zweitstimmen unter fünf Prozent bleibt, allerdings mindestens drei Wahlkreise direkt erobert. Davon profitierte bei der Bundestagswahl 2021 die Linkspartei, und brisant könnte es auch für die CSU werden, die bundesweit damals 5,2 Prozent erreichte, also nur knapp oberhalb der Fünf-Prozent-Hürde landete. Die CSU errang damals aber 45 bayerische Wahlkreise. Sollte nach dem neuen, von der Ampel geschaffenen Wahlrecht bei der Bundestagswahl 2025 sowohl die Linke unter fünf Prozent bleiben als auch die CSU und vielleicht auch die FDP, so könnte wieder der bedenkliche Effekt von 2013 eintreten – dass nämlich mehr als 15 Prozent der Zweitstimmen nicht im Bundestag repräsentiert sind.

Das heutige Urteil kann die 2023 beschlossene Wahlrechtsreform bestätigen, vollständig verwerfen oder teilweise für verfassungswidrig erklären. Eine Variante wäre, dass es bei der Ausnahme mit den drei Wahlkreisen bleibt, der Rest aber bestätigt wird. Dafür spräche, dass die Richter bisher bei Wahlrechtsfragen dem Parlament einen großen Freiraum bei der Entscheidungsfindung zugebilligt haben. (kw)