11. Jan. 2024 · 
Wirtschaft

Sigmar Gabriel, Lars Feld und Volker Schmidt rechnen mit aktuellen Defiziten der Politik ab

Dieser Mann nimmt schon lange kein Blatt mehr vor den Mund – heute weniger denn je zuvor. Sigmar Gabriel, der ehemalige SPD-Fraktionschef im Landtag, Ministerpräsident, Bundesumwelt-, Bundeswirtschafts- und Bundesaußenminister, hat von diplomatischer Zurückhaltung und Anpassung an die Parteilinie noch nie viel gehalten. Heute nun, als Privatier, steht der 64-Jährige quer zu vielen Genossen. Damit passte der Sozialdemokrat hervorragend in die Auftaktveranstaltung der „Stiftung Niedersächsische Wirtschaftsforschung“ (SNIW), die künftig die wirtschaftspolitische Politikberatung in diesem Bundesland wiederbeleben will.

„Wenn Außenpolitik bedeutet, dass sie den chinesischen Staatspräsidenten sechs Tage beleidigen, ist es relativ unwahrscheinlich, dass sie mit ihm am siebten Tag ein Abkommen über Klimaschutzpolitik schließen können", meint Sigmar Gabriel. | Foto: Link

Damit knüpft die SNIW an eine in den achtziger Jahren gegründete Einrichtung an, das 1981 geschaffene und 2016 aufgelöste „Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung“ (NIW). Gabriel fand gestern Abend im Schloss Herrenhausen in Hannover klare Worte mit Blick auf die aktuelle Bundesregierung, die von seinem Parteifreund Olaf Scholz geleitet wird: „Ich verstehe das, was die dort gerade in Berlin machen, auch nicht mehr.“ Er begreife auch nicht, warum ein Bundesfinanzminister in einer Haushaltskrise nicht einfach eine Ausgabensperre verhänge. „Damit hätte man den Großteil schon ohne Kürzungen geschafft“. Stattdessen streite die Ampel-Koalition wochenlang mit den Landwirten über relativ kleine Beträge, klagte Gabriel.

„Wir geben einen großen Teil des Bundeshaushalts für die Vergangenheit aus und nur ganz wenig für die Zukunft. Das scheint mir das eigentliche Problem zu sein", sagt Sigmar Gabriel. | Foto: Link

Zum Auftakt der ersten SNIW-Veranstaltung, die als „Kamingespräch“ tituliert war, umriss der SNIW-Kuratoriumsvorsitzende Volker Schmidt, Hauptgeschäftsführer von Niedersachsenmetall, die gegenwärtige Lage der Politik und der Politikberatung in Deutschland. Immer wieder, so klagte er, werden in Deutschland und auch in Niedersachsen große Ziele verkündet. Die sich daran anschließende Debatte kreise dann häufig einzig um die Frage, ob diese Ziele richtig oder falsch seien, ob sie zu ehrgeizig, zu vorsichtig oder ganz und gar falsch seien.

Die viel wichtigere Frage aber, ob die Politik als Ausdruck der „Kunst des Möglichen“ die Ziele in der zur Verfügung stehenden Zeit überhaupt erreichen kann, spiele im öffentlichen Diskurs kaum noch eine Rolle. Woran liegt das? Schmidts Antwort verweist auf die Wirtschaftswissenschaftler. Sie würden entweder von den Politikern nicht mehr gefragt. Oder aber, wenn ihre Antworten nicht in das Schema der Regierenden passen, wolle man die Ratschläge am besten gar nicht mehr anhören. So ähnlich habe die heutige DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi agiert, als ihr vor einigen Jahren die Empfehlungen des Rates der Wirtschaftsweisen widerstrebt hatten.

Moderator Martin Brüning (von links) spricht mit Volker Schmidt, Lars Feld und Sigmar Gabriel beim SNIW-Kamingespräch im Schloss Herrenhausen über die Probleme und Chancen der deutschen Wirtschaft im internationalen Standortwettbewerb. | Foto: Link

Um Beispiele dafür, wie kurzsichtig die aktuellen politischen Ziele sind, ist Schmidt nicht verlegen. So wolle die Bundesregierung bis 2030 bundesweit 6 Millionen neue Wärmepumpen einbauen. Wenn man das aber schaffen wolle, benötige man nicht nur die Besetzung der offenen 70.000 Stellen in dieser Branche. Zusätzlich brauche man noch weitere 60.000 neue Stellen für Elektrotechniker. Aber niemand wisse, wo all diese Leute herkommen sollen, zumal es schon schwierig sei, genügend Auszubildende für diesen Bereich zu interessieren. Gleiches gelte für den Einbau von Solaranlagen auf den Hausdächern, für die E-Mobilität und für das hochgesteckte Ziel der „Klimaneutralität im Jahr 2040“.

In all diesen Themen bleibe offen, wer auf welchen Wegen vorgehen muss, um den Endpunkt tatsächlich erreichen zu können. Und wenn man dann irgendwann doch feststelle, wie unrealistisch manche Projekte sind, dann würden die Ziele kurzerhand einkassiert und die Vorgaben wieder geändert, was die Verwirrung des Publikums noch steigere. Das beste Beispiel dafür sei das Heizungsgesetz aus dem Hause von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck. „Ideen werden gefährlich, wenn sie sich von der Realität entfernen“, hob Schmidt hervor. Die Förderung der E-Mobilität und die geplante und dann wieder gekippte Kürzung der Agrardiesel-Subvention seien weitere Beispiele für die mangelhafte Konsistenz der Politik dieser Bundesregierung.

"Kaum hat die Bundesregierung einen Vorschlag präsentiert, wird er gleich wieder abgeräumt – meistens von den gleichen Leuten", kritisiert Volker Schmidt, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Niedersächsische Wirtschaftsforschung. | Foto: Link

Die SNIW will nun Anstöße geben, Diskussionen lostreten und für eine bessere Politikberatung werben. „Wir wollen den politikberatenden Ansatz des einst von Ernst Albrecht gegründeten NIW am Leben erhalten“, betonte Schmidt. Es gehe um die Durchschlagskraft des wirtschaftswissenschaftlichen Sachverstandes in der Politik. Dabei sei bewusst, betonte Schmidt, dass man in Deutschland mit ordnungspolitischen Vorstellungen oder mit dem Appell an die Eigenverantwortung der Menschen kaum Wahlen gewinnen kann. „Damit kann man in der Bundesrepublik keinen Blumentopf gewinnen.“

Es sei zudem fraglich, ob man die Möglichkeit von Einschnitten in einer Gesellschaft noch vertreten könne, die immer älter werde und immer mehr auf die Sicherung der Besitzstände poche. In einer aufgeregten und manchmal hysterischen Atmosphäre gehe der gründliche Diskurs zunehmend verloren. In einer aktuellen Allensbach-Umfrage hat die SNIW Zahlen ermittelt, die Schmidt als „bedenklich“ bezeichnet: 50 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht mehr glauben, Deutschland könne in zehn Jahren noch eine starke Wirtschaftsnation sein.

Ähnlich wie Schmidt sieht auch der Ökonom Lars Feld, Chefberater des Bundesfinanzministers, bedrohliche Entwicklungen, etwa den Rückgang des Konsums der Deutschen – die aus Angst vor der Zukunft lieber sparen statt Geld auszugeben. Deutschland befinde sich in einer Stagnation, das sei „ein unangenehmes Umfeld für alle Investoren“. Ihn erinnere das an die siebziger Jahre, betonte Feld. Die Verbote, die von der Bundesregierung in der Klimapolitik verhängt wurden, schädige die deutsche Automobilindustrie besonders stark, auch im europäischen Vergleich. „Es ist besser, über den Preis zu steuern statt über Verbote“, hob Lindners Chefberater hervor.

„Der Rückgang der Investitionstätigkeit liegt bei den Kommunen – nicht bei Bund und Ländern. Wir haben vor allem auf der kommunalen Ebene auf Verschleiß gelebt“, analysiert Prof. Lars Feld, wirtschaftspolitischer Berater von Finanzminister Christian Lindner. | Foto: Link

Als Problem nannte er die starke Steigerung der Lohnstückkosten, und die liege daran, dass die Produktivität in Deutschland schwächer sei als in den europäischen Nachbarländern. Ein weiteres Problem sei der starke Anstieg der Energiekosten. Viele Unternehmen würden jetzt lieber in den USA investieren, da die dortige Regierung die Steuerlast für die Wirtschaft gesenkt habe, gleiches sei in Frankreich geschehen. In Deutschland aber sehe er keine Aussicht, dass man hier mit der Ampel-Regierung vorankomme. Für die geplante neue Chip-Fabrik in Magdeburg müsse der Antragsteller Intel einen Lastwagen mit 270 Aktenordnern vorlegen – und über derartige Auswüchse der Bürokratie werde bereits gespottet. Einen Anteil von 40 Prozent daran trage die EU, für 60 Prozent der Vorschriftenlast allerdings seien Bund und Länder verantwortlich. Dies alles bewirke für einen Spitzenwert der gefühlten Unsicherheiten in der Wirtschaftspolitik, betonte Feld.

Der frühere SPD-Vorsitzende Gabriel zog in seiner Betrachtung einen größeren Bogen. Die aktuellen wirtschaftlichen Probleme in Deutschland seien auch Ausdruck der Tatsache, dass Europa an Bedeutung verliere – wirtschaftlich, militärisch und politisch. Alle Rahmendaten hätten sich in Deutschland komplett verschlechtert, aber die Politik ziehe daraus nicht die nötigen Schlüsse. Die Weltbevölkerung wachse, und zwar vor allem im Indopazifik, nicht in Europa. Militärische Macht werde wichtiger als Welthandel. Die USA würden sich immer stärker nach Westen orientieren und sich von Europa abwenden – gleich, ob nun Joe Biden oder Donald Trump die Präsidentschaftswahl im Herbst gewinne. Die europäischen Länder reagierten darauf mit „zunehmendem Provinzialismus“.



Wenn Deutschland und Frankreich im UN-Sicherheitsrat unterschiedlich abstimmen, signalisiere das allen anderen Staaten, dass die Europäer sicherheitspolitisch unzuverlässig seien. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron habe vor Jahren einen „Europäischen Sicherheitsrat“ vorgeschlagen. Er sei schwer enttäuscht, sagte Gabriel, dass die Bundesregierung darauf „noch nicht einmal geantwortet hat“. Das bisher einzige, was Deutschland international immer noch reizvoll mache, sei nach wie vor der Ruf der wirtschaftlichen Stärke. Diese werde aber immer mehr bedroht, wenn etwa mit einer falschen Verbotspolitik Porzellan zerschlagen werde. „In den USA würde niemand auf die Idee kommen, die Verbrenner zu verbieten – die würden das für Gaga halten.“

In der Außen- und Außenhandelspolitik müsse Deutschland „vom hohen Ross herunterkommen“ und auf den moralischen Zeigefinger verzichten. Es sei ein Drama, wie heftig in Deutschland gegen internationale Handelsabkommen protestiert worden sei. Mit den USA gebe es einen solchen Pakt noch immer nicht. „Hätten wir ihn, würden wir heute von der US-Politik profitieren.“ Gabriel riet zudem, im Bürokratieabbau radikal die Regeln abzubauen – etwa die Einspruchsmöglichkeiten bei Infrastrukturvorhaben einzudämmen. „Einer der schlimmsten Fehler, den ich selbst mitverantwortet habe, war die Einführung des Verbandsklagerechts“, sagte Gabriel. Damit würden zentrale Bauvorhaben noch zusätzlich hinausgezögert.

Moderator Martin Brüning (von links) spricht mit Volker Schmidt, Lars Feld und Sigmar Gabriel beim SNIW-Kamingespräch im Schloss Herrenhausen über die Probleme und Chancen der deutschen Wirtschaft im internationalen Standortwettbewerb. | Foto: Link

Er verstehe auch nicht, wie man angesichts des Fachkräftemangels über die Einführung der Vier-Tage-Woche diskutieren könne. Ganz viel, sagte Gabriel, laufe gegenwärtig verkehrt. Vor allem fehle die Einsicht in die Fehler als erster Schritt für eine Besserung. Der Wirtschaftswissenschaftler Lars Feld stimmt Gabriel hier ausdrücklich zu: „Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen mit all den Problemen, die wir haben – und die viele von uns aber nicht sehen wollen.“

Dieser Artikel erschien am 12.1.2024 in Ausgabe #5.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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