„Scholz ist nicht allein in der SPD“: Linken-Chefin Wissler im Interview
Janine Wissler aus Hessen, eine der beiden neuen Parteivorsitzenden der Linken, sieht Chancen für eine Reformpolitik in einem rot-rot-grünen Bündnis nach der Bundestagswahl. Im Rundblick-Interview erklärt sie, was sie von SPD und Grünen erwartet – und was sie für den Erfolg von Rot-Rot-Grün optimistisch stimmt.
Rundblick: Welche Chancen sehen Sie für eine rot-rot-grüne Option?
Wissler: Bei dieser Wahl geht es um die Kernfrage: Machen wir Schluss mit der Politik der verlorenen Zeit – beim Thema Klimaschutz, bei der Deckelung von Mieten und beim Thema soziale Gerechtigkeit. Wenn die neue Regierung vier Jahre so weitermachen würde wie die bisherige Koalition, dann wäre das Klimaziel gar nicht mehr erreichbar in Deutschland. Wenn wir die Rente nicht endlich auf vernünftige Füße stellen, wird es eine deutliche Zunahme der Altersarmut geben. Wir müssen verhindern, dass die Menschen aus ihren Wohnungen verdrängt werden, weil die Mieten explodieren. Also: Es geht bei dieser Wahl um richtig viel. SPD und Grüne müssen überlegen, wie ernst sie ihr eigenes Programm nehmen. Die SPD sagt, sie will den gesetzlichen Mindestlohn erhöhen, umverteilen und sozialen Wohnraum schaffen. Das wird sie mit CDU und FDP nicht umsetzen können. Und wenn die Grünen konsequenten Klimaschutz erreichen wollen, dann geht das nun mal nicht mit Laschet und Lindner. Von daher müssen sich SPD und Grüne am Ende überlegen, ob die Differenzen zu CDU und FDP wirklich leichter zu überbrücken sind als die Differenzen zu den Linken.
Rundblick: Die aktuellen Umfragen deuten den Trend an, dass die SPD vor der Union liegt. Erleichtert das aus Ihrer Sicht eine Perspektive auf Rot-Rot-Grün?
Wissler: Laut Umfragen gibt es eine rechnerische Mehrheit für SPD, Grünen und Linke . Andererseits – es gibt solche Achterbahnen bei den Umfragen, das Ergebnis werden wir am 26. September sehen. Allerdings freue ich mich, dass die Union zurückliegt.
Rundblick: Warum?
Wissler: Weil es angesichts von Maskendeals, rückwärtsgewandter Politik und vieler Skandale voll verdient ist. Die Union gerät jetzt in Panik, und Markus Söder warnt vor einem historischen Linksrutsch. Das zeigt, dass die Union ihre Felle wegschwimmen sieht. Natürlich freut es mich, wenn es so ausschaut, als ob es eine Mehrheit ohne CDU und FDP geben kann – denn das eröffnet neue Möglichkeiten. Am Ende geht es immer um die Inhalte und darum, was man wirklich durchsetzen kann. Die Konservativen warnen vor der Vermögenssteuer, vor dem höheren Mindestlohn, vor der Vergesellschaftung der Wohnungskonzerne. Genau das sind Punkte, die der Mehrheit der Menschen etwas bringen würden.
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Rundblick: Nun gibt es ja, den Hinweis, dass die rot-rot-grüne Option genutzt werden kann in der SPD, um die FDP dazu zu bewegen, doch in eine Ampelkoalition einzuwilligen – sozusagen mit der Begründung, etwas Schlimmeres, nämlich ein linkes Bündnis, verhindert zu haben…
Wissler: Na, die SPD wird schon überlegen müssen, ob sie an der Einhaltung ihres eigenen Wahlprogramms interessiert ist. Wenn sie die Positionen zur sozialen Gerechtigkeit ernst nimmt, muss sie erkennen, dass all diese Forderungen mit der FDP nicht umzusetzen sein werden. Gleiches gilt für die Grünen und die Klimaschutzziele. Wenn es eine Option für eine Mehrheit ohne Union und FDP gibt, dann, so finde ich, muss man sehr ernsthaft miteinander sprechen.
„Es muss Schluss sein mit weiterer Aufrüstung. Die Taliban sind heute stärker als vorher.“
Rundblick: Kann man die Nato-Frage in irgendeiner Form in einem solchen Bündnis ausklammern oder mit einem Sonderstatus versehen, damit es nicht störend wirkt für eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit?
Wissler: Wir haben jetzt gerade das Desaster in Afghanistan erlebt, 20 Jahre Krieg und so viele Tote, so hohe Kosten. Die Linke hat immer davor gewarnt, hat immer dagegen gestimmt. Jetzt sagt sogar Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, die Bundeswehreinsätze müssten auf den Prüfstand, Annalena Baerbock sagt das auch. Da kann man doch nicht von der Linken verlangen, dass sie Bekenntnisse zu einer Außenpolitik ablegt, die gerade völlig gescheitert ist.
Die Militärmissionen haben keinen Frieden geschaffen. Die anderen Parteien sollten mal ihre eigenen Entscheidungen kritisch reflektieren. SPD und Grüne haben 2001 diesen Einsatz beschlossen, Union und FDP haben ihm immer zugestimmt. Wir brauchen eine Veränderung in der Außenpolitik. Das bedeutet zum Beispiel, keine Waffenlieferungen in alle Welt. Es muss Schluss sein mit weiterer Aufrüstung. Die Taliban sind heute stärker als vorher, weil sie auf das westliche Waffenarsenal der afghanischen Armee zurückgreifen können. Es hieß immer, die Linke müsse ihre außenpolitischen Positionen überdenken, um regierungsfähig zu sein. Afghanistan zeigt, dass andere jetzt aufgerufen sind, ihre Haltungen zu überprüfen.
Rundblick: Wie groß ist die Gefahr, dass Olaf Scholz durch seine Dominanz, die jetzt von der SPD im Wahlkampf herausgestellt wird, das Programm der nächsten Regierung stark bestimmen kann – als angehender Kanzler, der dann sagt: „Mit mir gibt es kein Rot-Rot-Grün“?
Wissler: Na ja, warten wir es mal ab, wie am Ende das Wahlergebnis ist. Olaf Scholz ist ja glücklicherweise nicht allein in der SPD. Dass Olaf Scholz nicht mit wehenden Fahnen und großer Begeisterung sagt, lasst uns ein Linksbündnis machen, überrascht nicht. Er steht für die Agenda 2010, für Hartz IV, für die Schuldenbremse und die „schwarze Null“. Aber es gibt in der SPD sehr viele Mitglieder und es gibt vor allem auch Wählerinnen und Wähler, die sagen, es muss Schluss sein mit der großen Koalition und der Politik des Stillstands.
Es muss sich doch mal irgendetwas ändern statt alle vier Jahre Wahlkämpfe zu machen für Themen, die dann wieder vier Jahre in die Schublade gepackt werden – etwa die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns. Macht es doch endlich! Der Mindestlohn ist jetzt gerade mal um zehn Cent erhöht worden, das ist doch ein Witz. Oder die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, also der Kettenbefristung. Das steht sogar im Koalitionsvertrag, die SPD hat es da hineinverhandelt. Es ist bis heute nichts passiert, in dieser Regierung wird auch nicht mehr passieren. Eine starke Linke wäre ein Garant dafür, dass es reicht für eine Mehrheit jenseits von Union und FDP und dass dann auch endlich soziale und ökologische Politik durchgesetzt wird.