31. Aug. 2020 · 
Kommentar

Pro und Contra: Befinden sich Corona-Protestler in Nazi-Nähe?

Einige Demonstranten gegen die Corona-Politik haben am Wochenende in Berlin versucht, den Reichstag zu stürmen. Was sagt das über die Qualität des Protestes aus? Begeben sich die, die am Protest teilnehmen, in die Nähe von Neonazis? Oder begünstigt die Polizeistrategie, dass ein Zerrbild entstehen konnte? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra. [caption id="attachment_53057" align="alignnone" width="780"] Klaus Wallbaum und Martin Brüning diskutieren, wer da am Sonntag das Reichstagsgebäude stürmen wollte - Foto: katatonio82; DqM[/caption]

PRO: Dass die Demonstration am Wochenende stattfinden konnte, war richtig. Auf die Straße ging allerdings nicht das Bürgertum, es waren vielmehr enttäuschte Wutbürger, die offensichtlich kein Problem damit haben, neben einer bizarren Mischung aus Neonazis, Antisemiten, kruden Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern zu demonstrieren. Da hilft auch eine nachträgliche Distanzierung nichts, meint Martin Brüning.

Mit Verboten von Demonstrationen sollte man vorsichtig umgehen. Insofern hat Berlins Innensenator Andreas Geisel nicht nur der Demokratie, sondern auch der gesellschaftlich hart und teils unschön geführten Debatte um die Corona-Verbote einen Bärendienst erwiesen, als er versuchte, die Demonstration in der Hauptstadt zu verbieten. Geisel ist damit ein weiteres Symbol für die Wurstigkeit der Berliner Landespolitik, die erst erfolglos versucht, eine unangenehme Demonstration zu verbieten und damit vor Gericht scheitert, und danach nicht in der Lage ist, das Reichstagsgebäude angemessen zu schützen. Dass Bundestagspolitiker nun laut Fragen nach dem Berliner Sicherheitskonzept im Herzen der Demokratie stellen, ist vollkommen richtig und sinnvoll. Mit dem versuchten Verbot hatte Geisel zudem Wasser auf die Mühlen all derjenigen Corona-Kritiker gegossen, die der Meinung sind, dass sie ihre Meinung staatlich verordnet lieber für sich behalten sollten. Es sind dieselben, die vermuten, dass die Politik bei Demonstrationen, in denen der schwarze Block oder gewaltbereite Antifa-Mitglieder mitmischen (könnten), auch mal ein Auge zudrückt. Dann brennt eben mal ein Auto, kann passieren…
Die Verordnungspolitik sollte der Regierung nicht zu Kopf steigen.
Gerade in diesen Zeiten hat eine Demonstration gegen die Corona-Auflagen eine große Bedeutung. Politik funktioniert seit Monaten nicht mehr so, wie wir sie über Jahrzehnte kannten. Der Parlamentarismus ist nahezu auf Eis gelegt, die Exekutive regiert mit Verordnungen durch. Das ist auf der einen Seite der Infektionslage angepasst und teilweise nicht anders möglich, auf der anderen Seite erschwert es aber die Arbeit der politische Opposition. Denn mit dem Parlamentarismus wurde auch der Diskurs über die jeweiligen Maßnahmen geschwächt. Umso wichtiger ist, dass Bürger gegen diese Maßnahmen auf die Straße gehen können, zumal auch für die Corona-Verordnung gilt, dass eben nichts nur schwarz und nur weiß ist – wie im richtigen Leben.
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Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um sich angesichts der Zahlen, die nicht so hoch sind, wie es manch einer gerne weismachen möchte, zu fragen, ob die Verordnung noch aktuell und angemessen ist. Wenn die Sozialministerin Verschärfungen nicht ausschließt, gleichzeitig aber die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner in sämtlichen niedersächsischen Landkreisen meilenweit von der kritischen Marke 50 entfernt ist, klaffen Aussagen und Realität gefährlich weit auseinander. Es ist durchaus möglich, dass die Lage Richtung Herbst wieder kritischer wird. Allerdings könnte man dann immer noch nachsteuern. Die Verordnungspolitik sollte der Regierung nicht zu Kopf steigen. Auch wenn gerade jetzt das Demonstrationsrecht einen besonders hohen Wert genießt, so gilt für all diejenigen, die auf die Straße gehen, aber immer noch das Prinzip „trau, schau, wem“. Wie man sich bettet, so liegt man. Und wer sich mit den Falschen ins Bett legt, liegt eben auch einmal plötzlich in der demokratischen Seitenlage. Der mündige Bürger schaut genau hin, mit wem er da zusammen auf die Straße geht. Auch wenn manche Demonstrationsteilnehmer mit kritischen und durchaus nachvollziehbaren Argumenten gegen die Corona-Politik zu Worte kamen, täuscht das nicht darüber hinweg, dass an diesem Wochenende nicht das klassische Bürgertum auf die Straße ging.
Allerdings steckt im Wort „querdenken“ auch das Wort „denken“, und wer vorher nachgedacht hätte, wäre möglicherweise darauf gekommen, dass die fragwürdige Melange der Demonstranten dem eigenen Protest-Interesse zuwiderlaufen könnte.
Vielmehr handelte es sich in der Breite eher um enttäuschte Wutbürger, die offensichtlich kein Problem damit haben, neben einer bizarren Mischung aus Neonazis, Antisemiten, kruden Impfgegnern und Verschwörungstheoretikern zu demonstrieren. Bereits im Vorfeld fehlte es an einer Distanzierung seitens der Veranstalter, und so liegt die Vermutung nahe, dass es den sogenannten „Querdenkern“ vor allem darauf ankommt, möglichst viele Menschen auf die Straße zu locken und dabei beide Augen zuzudrücken, wenn es darum geht, wer am Ende an den Veranstaltungen teilnimmt. Angesichts derer, die da am Wochenende auf die Straße gingen, würde es auch nicht ausreichen, nur ein Auge zuzudrücken. Allerdings steckt im Wort „querdenken“ auch das Wort „denken“, und wer vorher nachgedacht hätte, wäre möglicherweise darauf gekommen, dass die fragwürdige Melange der Demonstranten dem eigenen Protest-Interesse zuwiderlaufen könnte. Da hilft es auch nicht, wenn man sich als Veranstalter erst im Nachhinein von Teilnehmern und Geschehnissen distanziert. So haben die Demonstranten den Menschen, die sich in diesen Corona-geprägten Zeiten mehr Maß und Mitte von der Politik wünschen, keinen Gefallen getan. Neben einer breiten Mehrheit, die das Vorgehen der Politik richtig findet, gibt es nicht wenige, die zu Recht befürchten, dass Bund und Land mit den Maßnahmen überziehen. Diese Skeptiker haben nichts mit den angeblich Freiheitsbewegten in Berlin tun, Ihre Zweifel müssen in der Politik aber dringend Gehör finden, damit das Land möglichst geeint durch die Krise kommt. Mail an den Autor des Kommentars

CONTRA: Der Verdacht drängt sich auf, dass der Polizeieinsatz in Berlin deshalb so mangelhaft war, weil auch auf der linken Seite viele die jetzt produzierten Bilder durchaus gebrauchen können. Plötzlich erscheint die Gefahr des Faschismus am Horizont, die alle erklärten Antifaschisten zusammenschweißt. Ein wenig mehr Unaufgeregtheit täte der Debatte gut, meint Klaus Wallbaum.

Die bundesweit, ja international um sich greifende Empörung ist nur zu verständlich. Dass Rechtsextremisten mit schwarz-weiß-roten Farben versuchen, den Reichstag in Berlin „zu stürmen“, wie Fernsehbilder eindeutig belegen, geht zu weit. Das hätte nicht passieren dürfen. Nun mag man über die Motive der Randalierer, ihren Organisationsgrad und ihre Strategie kräftig spekulieren – höchstwahrscheinlich war es ein bunt gemischter Haufen aggressiver Staatsfeinde, die ihrem Hass auf das Symbol der Republik Ausdruck verleihen wollten. Wie auch immer: Die Bilder haben ihre bleibende Symbolik: Eine Gruppe zerstörungswilliger Wutbürger will das Parlament besetzen und handlungsunfähig machen. Eine Handvoll Polizisten ist sichtlich überfordert mit dem Plan, die Angreifer abzuwehren.
So besteht viel Anlass zu der Vermutung, dass manche in der rot-rot-grünen Stadtregierung der Bundeshauptstadt die Eskalation gar nicht ungern gesehen, sondern sogar bewusst in Kauf genommen haben.
Wenn der Berliner Senat jetzt so tut, als sei er überrascht worden von der Gewaltbereitschaft des besonders fanatischen Teils der Demonstranten, dann klingt das mehr als unglaubwürdig. Die staatsfeindlichen, auf Systemveränderung ausgerichteten Parolen verschiedener Gruppen, die seit Monaten regelmäßig zu Protesten aufrufen, waren dem Innensenator bekannt. So besteht viel Anlass zu der Vermutung, dass manche in der rot-rot-grünen Stadtregierung der Bundeshauptstadt die Eskalation gar nicht ungern gesehen, sondern sogar bewusst in Kauf genommen haben. Der Antifaschismus war Staatsdoktrin in der DDR und in Ost-Berlin, er ist heute noch ein einigendes Band vieler linksgerichteter Gruppen. Funktionieren kann der Antifaschismus aber nur, wenn das Feindbild, der Faschismus, nicht zu klein, zu schwach und zu unbedeutend erscheint.
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Die Fernsehbilder von der drohenden Stürmung des Reichstages überzeichnen nun das Bild der „braunen Gefahr“. Die meisten, die gegen die Corona-Politik demonstriert haben, sind sicher keine Neonazis. Und wahr ist auch: Dass der Berliner Senat die Demonstration anfangs verboten hat, war ein rechtlich fragwürdiger Schritt, wie die späteren Urteile, mit denen das Verbot aufgehoben wurde, zeigen. Er diente sicher dazu, die Aggressionen der fanatischen Protestler noch anzufachen. Es hätte doch genügt, von Anfang an die Kräfte darauf auszurichten, die Verstöße gegen die Abstandsgebot-Auflagen konsequent zu ahnden. Dass dann direkt am Reichstag viel zu wenig Polizisten postiert wurden, machte die Fernsehbilder erst möglich, die grölende Rechtsextremisten beim Sturm gegen die Türen des Parlamentes zeigen.
Wie immer in solchen Momenten, in denen Gefühle aufwallen, schlägt jetzt wieder die Stunde der radikalen Vereinfacher.
Diese verfehlte Polizeistrategie lässt nun zwei Gruppen zurück, die sich zurücklehnen und sagen können: „Das habe ich doch schon immer gewusst.“ Zum einen sind es die überzeugten Antifaschisten, die stolz auf diese Bezeichnung sind. Endlich glauben sie einen Beleg für die Gefährlichkeit ihrer Gegner, der Faschisten, in der Hand zu haben. Zum anderen sind es die Verschwörungstheoretiker, die in der Bundesrepublik eine Diktatur mit dem Ziel der Meinungsunterdrückung sehen – und den Angriff auf den Reichstag als wichtigen symbolischen Akt erkennen. Sie dürften sich von der Aufregung, die die Fernsehbilder entfacht haben, bestätigt und gestärkt fühlen. Seht her, dürften sie denken, wir können eben doch etwas bewegen. Die Ereignisse am Wochenende in Berlin wühlen auch deshalb die Debatte auf, weil ein staatliches Symbol, der Reichstag, als verletzlich erschien. Wie immer in solchen Momenten, in denen Gefühle aufwallen, schlägt jetzt wieder die Stunde der radikalen Vereinfacher. Unter den Demonstranten ist es das Gerede über die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung. Auf der anderen Seite profilieren sich jetzt Politiker, die stolz berichten, es sei gerade noch einmal verhindert worden, dass „die Nazis ein zweites Mal den Reichstag anzünden“. Derartige Sprüche, so griffig sie auch klingen, sind gefährlich, da sie historisch unhaltbar sind. Erstens darf man – nach den neuen Hinweisen aus dem vergangenen Jahr mehr denn je – Zweifel an der These haben, dass die Nazis 1933 den Reichstag in Flammen gesetzt haben. Sie nahmen das Ereignis zum Anlass, die Grundrechte außer Kraft zu setzen und politische Gegner zu verfolgen und zu ermorden, das stimmt. Aber die von vielen schlicht behauptete Täterschaft für den Brand steht doch sehr in Frage.

Dass aber diese Demonstration gezielt gesteuert und gelenkt wurde, ist nicht belegt und bislang unwahrscheinlich.


Zweitens, und das ist noch wichtiger, kann man den pöbelnden Mob, der am Wochenende den Reichstag angegriffen hat, vermutlich nicht treffend als „Nazis“ bezeichnen. Das waren sicher zum großen Teil auch Rechtsextremisten, unbelehrbare Gegner der Demokratie, verblendete Idioten. Der Begriff der „Nazis“ aber steht für eine politische Organisation, deren Mitglieder nach Befehl und Gehorsam agieren, auf Anleitung einer starken Führung, begleitet von Rauflust und Aggressivität. Dass es in diesem Fall diese Kriterien allesamt zutreffen, darf bezweifelt werden. Sicher gibt es Leithammel im Lager der Rechtsextremisten, sicher lag bei vielen die Hemmschwelle zur Gewalt sehr niedrig. Dass aber diese Demonstration gezielt gesteuert und gelenkt wurde, ist nicht belegt und bislang unwahrscheinlich. Welche Lehren sind aus den Vorfällen zu ziehen? Erstens liegt es sehr stark am Versagen der Berliner Polizeistrategie, dass sich die gewaltbereiten Rechtsextremisten so in den Vordergrund spielen und das öffentliche Bild prägen konnten. Zweitens wäre es grundverkehrt, daraus nun zu schlussfolgern, es handele sich bei den Anti-Corona-Protesten um einen neofaschistischen oder rechtsradikalen Aufmarsch. Sehr viele Demonstranten mit höchst unterschiedlichen Motiven (Impfgegner, liberale Freiheitsfreunde, Skeptiker aller Art) haben sich in Berlin versammelt. Dass sie die Kulisse geboten haben für einen schwarz-weiß-roten Mob, wird vielen hinterher erst aufgegangen sein. Da die meisten von ihnen aber als Überzeugungstäter agieren, dürfte die Mahnung, sie würden mit ihrer Mitwirkung bei den Protesten nur „den Nazis ihr Geschäft erleichtern“, kaum große Wirkung entfalten. Die Corona-Politik greift seit Monaten so stark in das Leben der Menschen ein, dass sie ihr Aufbegehren dagegen als absolut legitim ansehen und eine Gleichsetzung mit Nazis als absolut unangemessen. Mail an den Autor des Kommentars
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #151.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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