Eine solche Sensation in einem Landtag hat es das letzte Mal vor 15 Jahren gegeben, als die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) die Wiederwahl in ihrem Landesparlament verpasste: Am Mittwoch ist Thomas Kemmerich, FDP-Spitzenkandidat in Thüringen, in geheimer Wahl zum neuen Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt worden – vermutlich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD. Ist das nun ein Tabubruch, der verurteilt werden muss? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.

PRO: CDU und FDP im Erfurter Landtag haben der Demokratie einen Bärendienst erwiesen. Sie ermöglichten es der AfD, sich als Königsmacher bei der Wahl des neuen Ministerpräsidenten darzustellen. Damit haben sie mit rechtsextremen Kräften paktiert – und dies hätte unter allen Umständen verhindert werden müssen, meint Klaus Wallbaum.

Nein, der Untergang des Abendlandes ist nicht geschehen heute in Erfurt. All jene, die von einer Katastrophe für die Demokratie sprechen, müssen sich fragen lassen, ob sie nicht Moralismus an die Stelle einer nüchternen Betrachtung der Lage setzen. Und wer die AfD schlicht als „Faschisten“ bezeichnet, verharmlost den Nationalsozialismus. Aber: Ein Schaden ist für die Demokratie dennoch entstanden – denn die bürgerlichen Parteien haben die AfD, die gerade in Thüringen eine rechtsradikale Prägung hat, mit ihrem Verhalten hoffähig gemacht, sie haben ihr eine Rolle als ernstzunehmender Mitspieler eröffnet. Das hätte vermieden werden müssen.

Die AfD kann nun über das Land ziehen und von sich behaupten, einen FDP-Mann ins Amt gehievt und die Wiederwahl eines Linken verhindert zu haben.

Zunächst lohnt ein Blick auf die Ausgangslage: Die Verhältnisse im Thüringer Landtag waren nach der Landtagswahl unübersichtlich geblieben, weder Rot-Rot-Grün hatte die Mehrheit, noch ein – von der CDU angestrebtes – Zusammengehen von CDU, SPD, Grünen und FDP. Eine Kooperation von Christdemokraten und Linkspartei kam nicht zustande, auch nicht wegen massiver Vorbehalte in der CDU. So fand am gestrigen Mittwoch eine Ministerpräsidentenwahl statt, obwohl vorher überhaupt noch nicht geklärt war, wie die Mehrheiten sich entwickeln würden. Das allein war schon riskant genug.

Am Ende vereinigte der überraschend angetretene Bewerber der FDP, Thomas Kemmerich, die Mehrheit von 45 Stimmen auf sich, der vorherige Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) erhielt nur 44 Stimmen. Die Wahl war geheim, das muss hier betont werden. Dennoch ist die Vermutung nicht abwegig, dass Kemmerichs Erfolg auf eine Kooperation von FDP, CDU und AfD zurückzuführen ist. Die stärkste Kraft in diesem Verbund ist mit 22 Mandaten im Landtag die AfD. Hat Thüringen jetzt also einen Regierungschef von Gnaden der AfD – von Gnaden des rechtsextremen AfD-Politikers Björn Höcke?

Man muss feststellen, dass Kemmerich einen schweren taktischen Fehler begangen hat. Dadurch, dass seine FDP ihn als Ministerpräsidentenkandidaten benannte, war für die CDU auf einmal ein wählbarer Bewerber im Rennen. Die AfD nutzte vermutlich ihre strategische Chance: Wenn sie auch für Kemmerich stimmte, nicht für ihren eigenen Bewerber, konnte sie sich erstmals als eine gestaltende Kraft in einem deutschen Parlament präsentieren. Das erste Mal rückt diese Partei, in der viele rechtsextreme und systemfeindliche Kräfte agieren, in eine zentrale politische Rolle. Sie kann über das Land ziehen und von sich behaupten, einen FDP-Mann ins Amt gehievt und die Wiederwahl eines Linken verhindert zu haben. Was ist geeigneter, den Vorwurf des Anti-Parlamentarismus zu entkräften, als eine solche – wahrhaft patriotische – Heldentat?

Schon allein diesen Triumph hätten FDP und CDU der AfD nie gönnen dürfen. Die Vorgänge sind nun geeignet, all jene Kräfte bei Christ- und Freidemokraten zu stärken, die das von ihren Bundesparteiführungen verfügte Abgrenzungsgebot gegenüber der AfD lieber heute als morgen opfern und Zweckbündnisse mit der AfD auf kommunaler und auf Landesebene eingehen wollen.

Da ein schwerer Schaden entstanden ist, gilt es jetzt, diesen Schaden zu begrenzen. Kemmerich sollte das einzig Richtige tun und sofort zurücktreten.

Was ist zu tun? Da ein schwerer Schaden entstanden ist, gilt es jetzt, diesen Schaden zu begrenzen. Weil nicht zu erwarten ist, dass die Linkspartei Kemmerich unterstützen wird, könnte seine Regierung neue Gesetze und Haushaltspläne vermutlich nur mit Hilfe der AfD beschließen. Auf einmal wäre die AfD in Thüringen Regierungspartei – das wäre eine schier unglaubliche Perspektive. Also sollte Kemmerich das einzig Richtige tun und sofort zurücktreten. In Thüringen sollte es Neuwahlen geben. Vorher müsste klar sein, dass die Linkspartei inzwischen als eine Kraft angesehen wird, die auch für CDU und FDP koalitionsfähig sein muss. Die Zeiten, in der das noch der Hort der alten SEDler war, ist sowieso längst vorbei.

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CONTRA: Das Totalversagen der Parteien begann bereits mit den irrlichternden Koalitionsdebatten nach der Wahl, die das Vertrauen weiter unterminierten. Die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten war nur noch der Höhepunkt nach wochenlangen Querelen und dem ständigen Festhalten dessen, was alles nicht geht. Sind Politik und ihr Umfeld eigentlich nicht mehr in der Lage, zumindest einmal darüber nachzudenken, ob mit dieser Wahl im Landtag etwas Sinnvolles gestaltet werden könnte, fragt Martin Brüning.

Da sage mal einer, es gebe in der Politik keine Überraschungen mehr. Ausgerechnet der Spitzenkandidat der Partei, die bei der Landtagswahl in Thüringen mit nur knapp über 70 Stimmen den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde schaffte, wurde am Mittwoch zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Dass ausgerechnet dem Unternehmer Thomas Kemmerich, der in zwei Wochen 55 Jahre alt wird, eine solche Finte gelang, ist gar nicht besonders verwunderlich. Der Mann aus Aachen, der nach der Wende, wie er selbst sagt, eher zufällig nach Thüringen kam und dort eine Unternehmensberatung und später eine Friseur-Filialkette aufbaute, gilt vielen in der Partei als unkonventionell. Er gibt sich gerne als maskuliner Macher-Typ, trägt Cowboy-Stiefel.

Selbst dann, wenn nicht wenige ihn jetzt durch die Unterstützung der AfD bei seiner gestrigen Wahl in die Nähe von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten schieben wollen, gehört er dort eigentlich nicht hin. Im Gegenteil: Kemmerich ist vor allem ein Wirtschaftsliberaler, wünschte sich im Wahlkampf zum Beispiel ausdrücklich mehr Fachleute aus dem Ausland in Thüringen und warb mit einem Plakat, auf dem seine Glatze abgebildet war, dazu der Spruch: „Endlich mal eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat.“ Kemmerich ist risikobereit und hat das heute im Landtag einmal mehr unter Beweis gestellt. Ob die gewonnene Wahl am Ende aber auch wirklich politisch klug war und zu einem Gewinn für ihn selbst und die Freien Demokraten wird, steht auf einem ganz anderen Blatt.

Fest steht allerdings, dass es zu dieser Situation nie gekommen wäre, wenn die demokratischen Parteien zuvor nicht monatelang unter einer schweren „Ausschließeritis“ gelitten hätten.

Fest steht allerdings, dass es zu dieser Situation nie gekommen wäre, wenn die demokratischen Parteien zuvor nicht monatelang unter einer schweren „Ausschließeritis“ gelitten hätten. Vor allem die CDU irrlichterte umher, mal wurde ganz leicht mit der AfD geliebäugelt, dann doch mit einem Bündnis mit Bodo Ramelows Linkspartei, was umgehend empört zurückgewiesen wurde. Die CDU hat noch nicht gelernt, dass die Auswahl kleiner wird und die Koalitionsflexibilität entsprechend größer werden muss, wenn man es nur noch mit Mühe über die 20-Prozent-Marke schafft. SPD und Grüne wiederum, mit 8,2 und 5,2 bei der Wahl selbst böse von den Wählern abgestraft, wollten nicht als kleiner Partner der CDU mitregieren, die FDP schloss aus, ein rot-rot-grünes-Bündnis zu stützen. Wenn aber alle im Vorfeld nicht zu einer Einigung in der Lage sind, entstehen Situationen, wie man sie heute im Thüringer Landtag vorfand. Und wer alles nicht will, bekommt am Ende häufig das, was er erst recht nie wollte. Erst recht, wenn wie bei der Wahl des Ministerpräsidenten geheim abgestimmt wird.

Jetzt ist der Aufschrei groß, und die Empörung und Formulierung dessen, was auf jeden Fall überhaupt nicht geht, ist wie immer fester Bestandteil der immer trivialeren politischen Twitter-Kommunikation, in der es natürlich extrem öffentlichkeitswirksam ist, dem gewählten Ministerpräsidenten den Blumenstrauß vor die Füße zu werfen, wie es heute die Fraktionsvorsitzende der Linken im Landtag gemacht hat. Während viele mit sich ringen und noch überlegen, was mit diesem Wahlergebnis von heute vielleicht anzufangen sein könnte, beeilen sich sogar die niedersächsischen Jungliberalen, der thüringischen FDP-Fraktion vorzuwerfen, sich von allen demokratischen Spielregeln verabschiedet zu haben. Das Ergebnis erschüttere das Vertrauen der Menschen in unsere Parteien und unser demokratisches System, hieß es.

Das ist aber nicht korrekt, die Erschütterung gab es bereits durch das Ergebnis der Landtagswahl im Oktober. Die CDU landete fast zwei Prozentpunkte hinter der AfD, die SPD 15 Prozentpunkte, die Grünen 18 Prozentpunkte. Der Hickhack um mögliche Koalitionen führte sogar dazu, dass sich die AfD in Thüringen in der letzten Umfrage bei 24 Prozent stabilisierte, während die CDU weiter absackte. Es sind genau die Parteien, die es in den vergangenen Jahren in Thüringen nicht vermocht haben, die Wähler zu überzeugen, doch besser nicht AfD zu wählen und für demokratisches Totalversagen verantwortlich sind, die nun am lautesten protestieren.

Kemmerich hat gezockt und gewonnen, aber ein Gewinn kann sich auch als Bumerang erweisen.

Ob das Ergebnis für Kemmerich wirklich ein „großer Erfolg“ ist, wie FDP-Vize Wolfgang Kubicki es heute formulierte, bleibt allerdings abzuwarten. Kemmerich hat gezockt und gewonnen, aber ein Gewinn kann sich auch als Bumerang erweisen. Die FDP, die sich in den vergangenen Monaten bei einigen Themen mit der Abgrenzung zu AfD – bewusst oder unbewusst – manchmal etwas schwertat, wird nun große Mühe haben, sich von den Rechtspopulisten abzugrenzen. Zugleich hat Kubicki aber mit seinem Appell an die demokratischen Kräfte recht, sich einzubringen. Es ist ganz leicht, Kemmerich nun in die rechte Ecke zu stellen und auf stur zu schalten. Viel schwieriger ist es, nach vorne zu schauen und aus einer verfassungsgemäßen Wahl, so befremdlich und schmuddelig sie auch gewesen sein mag, etwas Sinnvolles zu machen. Heute erscheint vielen bei SPD und Grünen die Lage noch ganz klar, aber auf lange Sicht wird ihnen eine Verweigerungshaltung nicht gut bekommen. Spätestens eine Neuwahl wird zeigen, dass die Wähler ihre Stimme lieber denen geben, die wissen, was sie wollen, statt denen, die immer wieder betonen, was sie nicht wollen.

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