Pro & Contra zum Kommunalwahlrecht: Das Kreuz mit den vielen Kreuzen
Die Niedersachsen wählen am Sonntag neue Kommunalvertretungen. Das Wahlrecht ist sehr kompliziert: Je Wahl für Gemeinderat, Kreistag und Ortsrat kann jeder Wähler bis zu drei Stimmen vergeben – entweder eine Stimme für die Liste einer Partei, oder aber drei verteilt auf mehrere (oder auch gehäuft für einzelne) Kandidaten, vielleicht sogar aufgesplittet auf mehrere Listen. Nachdem es bei der Kommunalwahl 2011 mehrere Pannen bei der Auszählung gegeben hatte, wurden Rufe nach einer Wahlrechtsreform laut: Der heutige Ministerpräsident Stephan Weil schlug 2012 vor, nur noch eine Stimme vorzusehen, die dann für die Liste einer Partei abgegeben werden muss. Der heutige Oppositionsführer Björn Thümler schlug das Gegenteil vor: Es sollten nur noch Stimmen für Personen abgegeben werden können, nicht mehr für die Listen der Parteien. Geschehen ist allerdings seitdem nichts, das Wahlrecht blieb unangetastet. Soll man das Kommunalwahlrecht für die nächsten Wahlen vereinfachen?
PRO: Die guten Ideen sind immer einfach. Deshalb ist ein Wahlrecht, das erst einmal lang und breit erklärt werden muss, eben keine gute Idee, meint Martin Brüning.
Wer sich auf der Internetseite der Stadt Hannover über die anstehende Kommunalwahl informieren will, den kann das kalte Grausen packen – und daran trägt nicht die Internetredaktion von hannover.de die Schuld. Man bekommt also bis zu drei amtliche Stimmzettel für drei Wahlen und kann auf diesen drei Stimmzetteln jeweils maximal drei Kreuze machen. Alles klar? Dazu findet man auf der Seite noch eine SoVD-Broschüre zur Kommunalwahl. „Wie man wählt“, so lautet der Titel. Auch auf anderen Seiten kann man sich über die anstehende Wahl informieren. Überschriften wie „Wie wähle ich richtig?“ oder das Quiz: „Können Sie Kommunalwahl?“ lassen Zweifel daran aufkommen, dass dieses System so „bürgerfreundlich“ ist, wie es oftmals dargestellt wird.
Wer Otto Normalverbraucher auf der Straße einmal fragen würde, was denn in und um Hannover eigentlich der genaue Unterschied zwischen Regionsversammlung, Rat und Stadtbezirksrat ist, bekäme vermutlich bereits dabei teilweise interessante Antworten. Wer sich aber dann auch noch erkundigen wollte, wie denn dieses Kumulieren und Panaschieren genau funktioniert, würde voraussichtlich zumeist in fragende Gesichter schauen. Befürworter des komplizierten Systems sagen oft, mit dieser Argumentation spreche man den Wählern die Intelligenz ab. Im Gegensatz zu den Befürwortern hat aber die große Mehrheit kein Interesse an einem Politik-Grundkurs „Wahlrecht und Mitbestimmung“, bevor es in die Wahlkabine geht.
Wen also überrascht es, dass bei der Kommunalwahl 2011 rund jeder zweite Wahlberechtigte lieber zuhause blieb, als in einer engen Kabine mit einem 1,5 Meter breiten Wahlzettel zu hantieren? In Hessen gingen in diesem Jahr sogar nur noch 48 Prozent zur Wahl. Und auch die Zahl der ungültig abgegebenen Stimmen ist bei der Kommunalwahl signifikant höher. Bei der Landtagswahl 2013 gaben 52.000 Wähler ungültige Stimmzettel ab, bei den letzten Kreiswahlen waren es fast 76.000 Wähler -und das bei einer deutlich geringeren Wahlbeteiligung.
Die Politik und deren Beobachter separieren sich inzwischen zu oft von den Wählern. Die „Politiknerds“ setzen ein Wissen über Politik voraus, dass allzu oft nicht (mehr) der Realität entspricht. Das kann man in zahlreichen politischen Debatten verfolgen, aber man sieht es eben auch anhand eines überkomplexen Wahlsystems, das erst einmal lang und breit erklärt werden muss. Für die „Politiknerds“ ist es vielleicht eine bittere Erkenntnis, aber nicht jeder teilt unser großes Interesse an Politik. Das ist die Realität. Das Wahlrecht sollte wieder mehr mit der Realität ein Einklang gebracht werden.
Richtig ist vermutlich, dass die niedrige Wahlbeteiligung mit einer Änderung des Wahlrechts nicht sofort exorbitant in die Höhe schnellt. Dennoch wäre es angebracht, die Hürde vor der Wahlkabine so niedrig wie möglich zu gestalten. Statt also erneut darüber zu diskutieren, wo man denn am Wahlsonntag noch überall wählen könnte, um den Bürgern entgegenzukommen, sollte man lieber ein Wahlrecht konzipieren, welches nicht erst lang und breit erklärt werden muss. Die guten Ideen sind immer einfach.
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CONTRA: Wenn es Schwierigkeiten bei der Auszählung gibt, muss man die Wahlhelfer professioneller unterstützen – man darf nicht die Möglichkeiten der Wähler einschränken, meint Klaus Wallbaum:
Von einem „Chaos bei der Kommunalwahl“ war vor fünf Jahren die Rede. Wie gewichtet man die Listenstimme, wie die drei Personenstimmen? Viele ehrenamtliche Wahlhelfer, hieß es, seien bei der Auszählung überfordert gewesen. Bei der Übertragung von Zählresultaten in die Ergebnislisten kam es an einigen Orten zu Übertragungsfehlern. Nachzählungen waren die Folge. Ob das auch am kommenden Sonntag geschehen wird? Die Wahrscheinlichkeit ist nicht gering.
Wer als Konsequenz das Kommunalwahlrecht ändern will, bestraft die Wähler für die Probleme bei der Stimmauszählung. Das darf nicht sein. Sicher, das gegenwärtige Recht ist kompliziert, jeder Wähler muss sich damit beschäftigen, bevor er seine Kreuze setzt. Aber die Ansicht, die schwierigen Vorgaben seien abschreckend für die Wähler und ausschlaggebend für die Wahlmüdigkeit bei Kommunalwahlen, ist konstruiert. Zum einen ist auch bisher die Zahl der ungültigen Stimmen in Grenzen geblieben, die große Mehrheit der Wähler hat das Wahlrecht offenbar verstanden. Zum anderen liegt die Beteiligung bei Kommunalwahlen immer unter der von Bundestags- oder Landtagswahlen, und der Grund dafür ist das deutlich weniger politisierte Umfeld. Kommunalpolitik polarisiert nicht so stark, sie hat den Ruf, langweilig zu sein. Kommunalwahlen mobilisieren überall in der Republik die Menschen weit weniger – ganz unabhängig davon, ob das Stimmverfahren nun einfach oder – wie in Niedersachsen – kompliziert ist.
Reformen am Wahlrecht sind an sich nicht verkehrt, alles lässt sich verbessern. Doch das Verfahren in Niedersachsen ist schon ein gelungener Kompromiss zwischen zwei konkurrierenden Modellen der Personalauswahl für die kommunalen Parlamente. Auf der einen Seite stehen die Anhänger der Listenstimme: Wenn ein Wähler nur schlicht SPD oder CDU, Grüne, FDP, Wählergemeinschaft oder andere ankreuzen kann, hat die Reihenfolge der Kandidaten auf der Liste eine große Bedeutung für die Frage, wer in den Rat gewählt wird. Wer oben steht, hat die besten Chancen. Die Parteigliederungen haben damit die Möglichkeit, mit der Aufstellung wenig bekannter, aber gut geeigneter (womöglich auch jüngerer) Kandidaten die Zusammensetzung ihrer späteren Fraktionen zu steuern. Auf der anderen Seite sind die Vertreter der Persönlichkeitswahl: Wenn ein äußerst beliebter, aber in seiner Partei nicht wohl gelittener Kandidat auf der Liste hinten platziert wird, kann er über die Personenstimme trotzdem ganz nach vorn rutschen – dann nämlich, wenn besonders viele Wähler nicht die Liste seiner Partei, sondern ihn direkt ankreuzen. Über dieses Wahlrecht erleben lokale Gliederungen von SPD, CDU, FDP und Grüne immer wieder Überraschungen, weil Platzhirsche, die in ihren Parteien in Ungnade gefallen waren, mit hervorragenden Ergebnissen gewählt werden. Dass im Kommunalwahlrecht sowohl die Listenstimme als auch die Personenstimme möglich ist, sorgt für ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen populären Einzelkandidaten und der Personalauswahl der Parteien. Wenn man das nicht schon hätte, müsste man es erfinden. Es zu ändern, wäre kein guter Weg.
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