10. Apr. 2023 · 
Kommentar

Pro & Contra: Ist eine neue Bahntrasse entlang der Autobahn 7 die Lösung der Verkehrsprobleme?

Seit Jahren schien es einen Kompromiss zu geben, der auf einer breiten Basis beruhte: Eine neue Bahnlinie zwischen Hamburg und Hannover soll nicht gebaut werden, stattdessen sollen die vorhandenen Strecken teilweise verstärkt werden. Mit diesem Plan hat man 2015 die Gemüter vor allem in der Lüneburger Heide beruhigt. Jetzt aber scheint die Deutsche Bahn ihre Absichten wieder geändert zu haben und zurückzurudern. Die alte, jahrelang bekämpfte „Y-Trasse“ steht wieder auf – und mit ihr die massiven Proteste dagegen. Was soll man nun tun? Die Rundblick-Redaktion diskutiert darüber in einem Pro und Contra.

Die Rundblick-Redaktion debattiert in einem Pro&Contra über die Frage, ob die Y-Trasse beim Schienenausbau zwischen Hamburg und Hannover doch wieder reaktiviert werden sollte. | Foto: GettyImages/Daniela Simona Temneanu


PRO: Freie Fahrt für den Schienenausbau

Um ihre Klimaziele bis 2030 zu erreichen, muss die Bundesrepublik doppelt so schnell CO2 einsparen wie bisher. Betrachtet man allerdings den Verkehrssektor nur für sich, würde eine Verdoppelung nicht ansatzweise ausreichen. Weil die Verkehrswende auf deutschen Straßen bisher nicht angekommen ist, müssen die Treibhausgase hier um das 14-fache gesenkt werden. Da hilft nur eines: Wir müssen so viel Verkehr wie möglich von der Straße auf die Schiene bringen – und zwar so schnell wie möglich. Am Neubau einer Bahnstrecke zwischen Hamburg und Hannover führt deswegen kein Weg vorbei, meint Christian Wilhelm Link.

Wenn es um die Verkehrswende geht, leidet dieses Land offenbar an einer dissoziativen Störung. Obwohl wir alle genau wissen, dass wir ohne den massiven Ausbau der Schieneninfrastruktur keine Chance haben, die Klimaziele zu erreichen, streiten wir trotzdem um jeden Gleisausbau, als müsste hier das nächste Dorf für den Bau eines Kohlekraftwerks geräumt werden. Es ist das gleiche Phänomen, das wir zuletzt beim Windkraftausbau gesehen haben und gerne als Mentalitätsproblem der Bayern kritisieren. Dabei ist die „Nicht in meiner Nachbarschaft“-Haltung bei der Verhinderung des Schienenausbaus in Niedersachsen mit der Dauerdiskussion um das Schienenbauprojekt Alpha-E auch nicht viel besser.

Bei einer seiner Neujahrsansprachen machte Wirtschaftsminister Olaf Lies dazu eine bemerkenswerte Feststellung: Er wünschte sich, dass Windkrafträder von der Bevölkerung nicht mehr als Ärgernis und hässliche Flecken in der Landschaft betrachtet werden, sondern als Symbol für Fortschritt und Energiewende. Genau so einen Sinneswandel benötigen wir auch beim Schienenverkehr, den wir eigentlich als modernste und klimafreundlichste Mobilitätsform für die Lang- und Mittelstrecke feiern sollten.

Für den Ausbau der Bahnstrecke zwischen Hannover und Hamburg (Optimiertes Alpha-E) hat die Deutsche Bahn verschiedene Ausbaumöglichkeiten untersucht. | Grafik: DB Netz AG

Immer wieder betont die Deutsche Bahn, dass der Schienengüterverkehr zwischen Hamburg/Bremen und Hannover schon jetzt überlastet ist. Dabei werden hier nicht nur drei Großstädte miteinander verbunden, sondern auch Wirtschafts- und Industriezentren sowie die dahinterliegenden Häfen. Und bis 2030 wird der Transportbedarf dort natürlich nicht geringer, sondern erheblich steigen. Das könnte man jetzt zum Anlass nehmen, um zu sagen: „Alles klar, dann bauen wir besser mal ganz massiv die Gleisanbindungen aus, denn Angebot schafft Nachfrage.“ Nicht aber im Beamten- und Bedenkenträgerstaat Deutschland. Hier muss die Bahn ganz genau vorrechnen, ab welcher Auslastungsquote ein Gleisneubau im Vergleich zur bestandsnahen Erweiterung die wirtschaftlichere Variante ist. Dabei müssten uns die jüngsten Krisen eigentlich klar gemacht haben, dass robuste Transportwege in der Gesamtrechnung gar nicht hoch genug eingepreist werden können. Eine zusätzliche Schienenverbindung zwischen Hamburg und Hannover wäre allein schon als Ausweichstrecke hilfreich.

Ich erinnere an dieser Stelle gerne wieder an die Güterzug-Kollision Ende November 2022, die wochenlang den Verkehr auf der Schnellfahrstrecke zwischen Hannover und Berlin lahmlegte. Und so etwas passiert nicht nur bei Unfällen, sondern auch bei Sanierungen. 2025 wird die Strecke zwischen Hamburg und Berlin sechs Monate lang wegen Modernisierungsarbeiten gesperrt. Der Fern- und Güterverkehr soll in dieser Zeit über Uelzen, Salzwedel, Stendal und Hannover ausweichen. Erfahrene Bahnreisende können sich schon ausmalen, was das für ein Chaos geben wird. „Je nach Umleitungsstrecke müssen Reisende zwischen 45 und 105 Minuten mehr Zeit einplanen“, kündigte die Bahn jetzt schon an. Da werden sich auch einige überzeugte Bahncard-Besitzer die Frage stellen, ob das Auto nicht vielleicht doch die bessere Wahl ist.

Gleisbauarbeiten gibt es auch im Schienenverkehr immer wieder. Auch deswegen sind Ausweichstrecken wichtig. | Foto: DB Netz AG


Letzlich ist das Ganze auch eine Personalfrage. Noch kommen alle Waren in den deutschen Fabriken und Supermärkten an, doch der Logistikbranche gehen die Fahrer aus. Der Transport auf der letzten Meile wird natürlich auch zukünftig nicht ohne Lastwagen gehen, auf lange Entfernungen kann der Arbeitskräftebedarf durch den Wechsel auf die Schiene aber massiv reduziert werden. Ein Güterzug ersetzt bis zu 52 Lastwagen. Außerdem passieren beim Gütertransport auf den Gleisen über 40-mal weniger Unfälle als auf den Straßen. Und der mehr als viermal geringere CO2-Ausstoß beim Gütertransport auf der Schiene im Vergleich zum Lastwagentransport spricht ebenfalls für sich. Das sind sicherlich alles Erwägungen, die bei den Bürgerinitiativen vor Ort keine Rolle spielen, wenn es darum geht, ihre Kommune vor zusätzlicher Lärmbelästigung und unschönen Bahnbrücken zu bewahren. Am Ende müssen aber solche grundsätzlichen Erwägungen beim Schienenausbau den Ausschlag geben und nicht irgendwelche regionalen Befindlichkeiten. Der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD) hatte genau das am bisherigen Kompromiss zu Alpha-E bemängelt.

Ich glaube auch, dass die Bürgerinitiativen hier bislang einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Entscheidungsfindung haben. Das liegt auch daran, dass das alles viel zu lange dauert. Alpha-E wurde schon 2016 als Großprojekt mit „vordringlichem Bedarf“ in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Sechseinhalb Jahre später sind wir immer noch bei null. Weil die Einhaltung der Klimaziele von ähnlicher Bedeutung ist wie die Energiesicherheit, sollte sich die Politik den Bau des LNG-Terminals in Wilhelmshaven zum Vorbild nehmen. Hier hat man sich auch nicht in endlosen Bürgerdialogen verloren, sondern nach kurzer intensiver Befassung mit dem Thema einfach losgelegt. Trotz aller Umweltbedenken und wahnsinnig hoher Kosten ist die Akzeptanz für das Flüssiggasterminal riesig. Ähnliches könne man vielleicht auch bei einem Schienenneubauprojekt erreichen, wenn man das Thema nicht ständig zerredet, sondern die gesamtgesellschaftliche Bedeutung betont, die der Gleisausbau für Niedersachsen und auch ganz Deutschland hat.


CONTRA: Bahn muss Kompromiss achten

Angesichts der massiven Proteste in vielen ländlichen Gemeinden scheint es illusorisch, eine Verständigung auf einen Neubauplan zu erreichen. Deshalb sollte die Deutsche Bahn nicht länger blockieren – sondern ihre Zusage von 2015 endlich umsetzen. Ansonsten dauert die Diskussion über die Planung ewig, bevor der konkrete Baubeginn in eine erreichbare Nähe rückt, meint Klaus Wallbaum.

Wenn es um verkehrspolitische Fragen geht, spielen immer mindestens zwei Gesichtspunkte eine Rolle. Der eine ist der sachliche, dabei markieren Prognosen über das Güteraufkommen, die Transportbedarfe und die logistischen Warenströme das Grundgerüst der Diskussion – außerdem solche über das Verkehrsverhalten der Bevölkerung. Dieser sachliche Bezug ist wichtig, und er sollte tatsächlich leitend sein für die Planungen. Doch daneben gibt es einen zweiten Aspekt, den der Akzeptanz: Sind die Bewohner in einer Region bereit, neue große Infrastrukturvorhaben hinzunehmen? Was sind die Aspekte, die ihnen Angst und Sorge bereiten angesichts solcher Planungen? Und was heißt das alles für die Wege der Entscheidungsfindung im parlamentarischen System?

Diese Überlegungen werden sehr konkret an der wieder aktuell gewordenen Frage, wie die Bahnlinien zwischen Hamburg und Hannover ausgebaut sein sollen. Schon seit Jahrzehnten bewegt sie die Gemüter, und eine Konzeption der Bahn entwickelte sich in den neunziger Jahren regelrecht zum Hassobjekt in vielen ländlichen Gegenden der Lüneburger Heide – die sogenannte „Y-Trasse“. Sie sah umfangreiche Neubauten von Bahnstrecken zwischen Bremen, Hamburg und Hannover vor.

In der Lüneburger Heide protestieren mehrere Bürgerinitiativen gegen eine neue Bahntrasse. | Foto: Wallbaum

2010 wurde selbst der Bahn klar, dass bei diesem 1,2-Milliarden-Euro-Vorhaben wohl Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis stehen, zumal die Proteste schnell vermuten ließen, dass sich die konkreten Planungen über viele Jahre hinziehen würden, von ihrer Umsetzung ganz zu schweigen. So war es die Initiative des damaligen Wirtschaftsministers Olaf Lies, die Bürgerinitiativen, die Politiker und die Bahn-Vertreter an einen Tisch zu holen und eine Verständigung zu suchen. Das gelang 2015 auch, man legte sich auf die Variante „Alpha E“ fest, die lediglich ein neues drittes Gleis zwischen Lüneburg und Uelzen vorsah, also Neubauten mit sehr viel geringerem Aufwand.



Sicher ist es verständlich, dass die Bahn nicht zuletzt wegen der aktuellen neuen verkehrspolitischen Prioritätensetzung (mehr Güter von der Straße auf die Schiene, weniger Auto- und mehr Bahnverkehr, höhere Nachfrage nach Bahn-Angeboten) ihre Prognosen anpasst und von früheren Zusagen abrückt. Die Schiene wird immer bedeutender, das Verkehrsaufkommen wächst. Für einen vernünftigen Takt sind vermutlich weitere Linien-Verstärkungen erforderlich. Berechtigt sind bestimmt auch die etwa von den Lüneburgern vorgetragenen Einwände, bei Lies‘ Dialogforum von 2015 hätten zwar sehr viele (rund 90), aber eben nicht alle Akteure der Alpha-E-Variante zugestimmt. Dagegen stehen jedoch Gegenargumente mit ganz erheblichem Gewicht: Der damalige – und jetzt wieder in dieses Amt zurückgekehrte – Wirtschaftsminister hat seine Zusage gegeben.

Die Y-Variante, die für viele ländliche Bürgerinitiativen zum Feindobjekt geworden war, schien damit endgültig vom Tisch. Nun aber fühlen sich manche von denen, die jahrelang gegen ungeliebte neue Streckenführungen gekämpft haben, an der Nase herumgeführt. Die Bahn, die 2015 eine Zusage gab, tat wenig, die Vereinbarung umzusetzen. Jetzt, acht Jahre später, rückt sie auf einmal davon ab und spricht von einem doch nötigen Neubau. Da ist der Einwand berechtigt, das Dialogforum von 2015 könne womöglich gar nicht ernst gemeint gewesen sein – sondern nur ein Mittel, die aufgebrachten Bürgerinitiativen mürbe zu stimmen.

SPD-Bundesparteichef Lars Klingbeil nimmt an einer Demo gegen den Trassenneubau in Bispingen teil. | Foto: Büro Lars Klingbeil

Ist das nun eben ein politisches Schicksal, das hingenommen werden muss? Muss man eben immer damit rechnen, auch in einem jahrelangen Streit am Ende zu verlieren? Sicher ist das so, aber in diesem Fall kommen verschärfend einige Aspekte hinzu: Betroffen von den negativen Folgen neuer Bahnstrecken fühlen sich Menschen in einer ländlichen Gegend, die für ihre in weiten Teilen unberührte Landschaft bekannt ist. Manche pflegen das Vorurteil, dass „die in Hannover“ oder „die in Frankfurt“ (wo die Bahn-Zentrale sitzt) keine Ahnung davon hätten, was ein aufwendiger Neubau einer Bahnlinie – samt Anpassung der Bodenhöhe – an Eingriff in die Natur bedeutet.

Viele sehen dadurch die Ruhe ihres dörflichen Lebens gestört, andere sorgen sich um den Wert ihrer Grundstücke, wieder andere befürchten, neue Bahntrassen könnten die gewohnten Verkehrswege durchschneiden. So verständlich und nachvollziehbar es klingt, wenn ein Plan der Bahn lautet, man könne „parallel zur Autobahn 7“ eine neue Bahntrasse errichten, so klar ist doch auch: im Detail wird es nicht ohne Schlenker und Abweichungen gehen, und damit bedeutet „parallel zur Autobahn“ in der Praxis häufig genug, dass einige hundert Meter zwischen beiden Linien liegen können. Damit ist der Hinweis „parallel zur Autobahn“ eben ein Ablenkungsmanöver, ein leeres Versprechen auch wieder nur zu dem Zweck, Kritikern etwas Falsches vorzugaukeln. Mit anderen Worten: Der Neubauplan wird aufwendiger und landschaftsschädigender, als er zunächst klingt.

Ein Argument für Alpha E bleibt bestechend: Da diese Varianten einen relativ geringen Eingriff in die vorhandene Infrastruktur nach sich ziehen, dürften sie nicht nur den wenigsten Widerstand vor Ort hervorrufen – sondern zudem noch am schnellsten zu realisieren sein. Und Schnelligkeit, das hört man allenthalben von den Vertretern der Bundes- wie der Landesregierung, soll bei der Planung von Vorhaben der Infrastruktur ja künftig Trumpf sein.

Dieser Artikel erschien am 11.4.2023 in Ausgabe #065.

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