Polizeifehler hat Konsequenzen: Göttinger Polizeipräsident Uwe Lührig muss gehen
Ein schwerer Polizeifehler, in dessen Folge ein 48-Jähriger aus Northeim vermutlich seine Serie von Missbrauchstaten an Kindern fortsetzen konnte, hat nun personelle Konsequenzen: Der Präsident der Polizeidirektion Göttingen, Uwe Lührig, ist gestern von der Landesregierung in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. In einer Pressemitteilung der Landesregierung heißt es lediglich, Innenminister Boris Pistorius (SPD) habe Lührig zuvor informiert und wünsche ihm „für die Zukunft alles Gute“. Zu den Gründen schweigt sich das Ministerium aus. Politische Beamte, zu denen auch die Polizeipräsidenten zählen, können jederzeit abgelöst werden, eine öffentliche Begründung dafür ist nicht erforderlich. Wie es aus Kreisen der Landesregierung heißt, steht in diesem Fall allerdings unzweifelhaft das Fehlverhalten in dem Northeimer Fall fest.
Widersprüchlich ist in dieser Sache, dass die Northeimer Polizei durchaus große Verdienste bei der Aufklärung von Netzwerken des Kindesmissbrauchs hat. Allerdings war es 2019 und 2020 zunächst zu massiven Versäumnissen gekommen, die auch in der fehlenden Kooperation der Ermittlungsbehörden in NRW und Niedersachsen begründet sind. Diese Umstände sind erst Anfang Februar dieses Jahres den Fraktionen im Landtag bekannt geworden, als das Innenministerium den -Innenausschuss darüber informierte. Neue Göttinger Polizeipräsidentin wird die Volljuristin Gwendolin von der Osten (49), bisher Referatsleiterin für Einsatz und Verkehr im Landespolizeipräsidium.
Die Panne in Northeim steht im Zusammenhang mit dem Skandal um einen Kinderschänder-Ring, der seinen Ausgangspunkt in Vorfällen im nordrhein-westfälischen Lügde hat. Im April 2019 meldete sich das Jugendamt aus Northeim erstmals bei der Polizei in Northeim und berichtete von Verdachtsmomenten gegen zwei auffällige Familien: Die Eltern verhielten sich abweisend gegenüber den Behörden, die Kinder reagierten merkwürdig. Es stellte sich bei der Überprüfung heraus, dass einer der beiden Väter, die vom Jugendamt der Polizei gemeldet wurden, Kontakt zum Haupttäter in Lügde hatten: Dieser Haupttäter, der auf dem dortigen Campingplatz sein Unwesen trieb und – wie sich später herausstellte – Kopf eines Missbrauch-Rings gewesen sein soll, stand seinerzeit schon im Fokus der medialen Aufmerksamkeit. Die Polizei in Northeim handelte nach einer internen Anweisung, wonach alles, was mit der Befragung der Opfer mit Lügde zusammenhing, an die Behörden in NRW übergeben und dort bearbeitet werden sollte. In NRW agierte die zentrale Ermittlungsführung. Also wurden die Informationen über die beiden Northeimer an die Ermittler in NRW weitergeleitet. Von dort kam bald danach die Rückmeldung nach Northeim, gegen die beiden Northeimer werde nicht ermittelt, sie würden vielmehr zunächst lediglich als Zeugen gehört.
Lührig soll das Verhalten der Northeimer Kollegen anfangs gerechtfertigt haben
Die Northeimer Polizei hätte jetzt selbst aktiv werden oder die Staatsanwaltschaft in Göttingen einschalten müssen, tat es aber offenbar nicht. Das Jugendamt in Northeim war irritiert, wandte sich immer wieder an die heimische Polizei. Von insgesamt vier Schreiben des Jugendamtes ist die Rede, diese sollen sich über mehrere Monate erstreckt haben und im Tonfall immer deutlicher geworden sein. Dennoch beschränkte sich die Polizei Northeim wohl stets darauf, die Kollegen in NRW zu informieren. Sie leiteten die Hinweise weiter, ohne selbst mehr zu unternehmen. Erst im März 2020 wurde die Brisanz bekannt, nachdem die Staatsanwaltschaft in NRW gegen einen Mann aus Northeim ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und einen Durchsuchungsbeschluss beantragt hatte. Dies war auch der Zeitpunkt, in dem das Innenministerium in Hannover hellhörig wurde und das Verhalten der Polizei in Northeim aufarbeitete.
Bisher ist unklar, seit wann Lührig über die Versäumnisse der Northeimer Beamten informiert war. In Hannover heißt es nur, dass der Polizeipräsident das Verhalten der Northeimer Kollegen anfangs gerechtfertigt habe und nicht den Eindruck erweckt haben soll, er wolle die Aufklärung vorantreiben. Dies muss das Vertrauensverhältnis zum Minister zerrüttet haben. Der 48-jährige Northeimer Täter steht inzwischen vor Gericht, er ist wegen Missbrauchs in mindestens 28 Fällen an fünf Mädchen angeklagt – für Taten bis November 2019, also auch noch zu einer Zeit, als der Polizei schon Informationen über ihn bekannt waren.