Politikprofessor: Eine Verfassung, die man nicht ändert, öffnet gerichtliche Willkür
Ist das Grundgesetz in der jetzigen Form noch zeitgemäß – oder sollte man es, wenn neue Anforderungen entstehen, an wichtigen Stellen anpassen? Mit dieser Frage hat sich der Landtag in einer Feierstunde beschäftigt, und der Anlass war der 75. Geburtstag der deutschen Verfassung. Drei Reden wurden vorgetragen, von Landtagspräsidentin Hanna Naber, Ministerpräsident Stephan Weil und Staatsgerichtshof-Präsident Wilhelm Mestwerdt. Die anschließende Festrede hielt der Göttinger Politikwissenschaftler Prof. Andreas Busch.
Dieser beschrieb ein Spannungsfeld zwischen Stabilität und Flexibilität. Sich zwischen diesen Ebenen zu bewegen, sei „keine Wissenschaft, sondern eine Kunst“. Einerseits könne die verfassungsmäßige Verankerung bestimmter Grundsätze, etwa der Sparsamkeit auf dem Wege der „Schuldenbremse“, ein Ausdruck demokratischen Willens sein. Es gehe dann darum, wichtige Grundsätze so festzuschreiben, dass dagegen nicht mit beliebiger Parlamentsmehrheit verstoßen werden kann. Eine Änderung der Verfassung setze dann eine Zweidrittelmehrheit voraus.
Nach Darstellung von Prof. Busch kann eine Verankerung von Prinzipien im Grundgesetz aber auch die Politik einschränken – und damit ein Zeichen von Begrenzung des demokratischen Willens sein. Auch hier erwähnt er die 2009 geschaffene „Schuldenbremse“ als Beispiel. Viele Kräfte meinten gerade gegenwärtig, dass mit dieser Vorschrift die Bereitstellung nötiger Investitionen etwa für den Klimaschutz blockiert werde. Prof. Busch sieht enorme Vorteile darin, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes 1949 darauf verzichtet hatten, eine Aussage zur Homosexualität in die Verfassung zu schreiben. Seit dieser Zeit habe sich die Gesellschaft gewandelt, was sich auch in der Gesetzgebung abzeichne.
Eine Verfassungsbestimmung, die womöglich gegen Homosexualität gerichtet gewesen wäre, hätte nach Ansicht von Prof. Busch diese notwendige politische Anpassung erschwert. Dabei, sagt er, sei die in Deutschland übliche Zweidrittelmehrheit als Bedingung einer Verfassungsänderung eine vergleichsweise niedrige Schwelle. Für eine Reform der US-Verfassung etwa müsse man viel höhere Hürden überspringen. „Das Ergebnis ist dann, dass es den Gerichten obliegt, die jeweils aktuelle Interpretation der Verfassungsbestimmungen vorzunehmen. Die Gefahr einer Uminterpretation ist dann viel größer. Aber diese Gerichte sind meistens viel weniger demokratisch legitimiert als die Parlamente“, folgert Prof. Busch. Somit könne es durchaus sinnvoll sein, eine Verfassung auch wandelbar zu halten.
Staatsgerichtshof-Präsident Mestwerdt erklärte, dass die beste Verfassung nicht vor demokratiefeindlicher Politik bewahre, solange es nicht ausreichend aktive Demokraten gebe. „Viele Menschen ziehen ein bequemes Leben in Wohlstand dem Engagement für die Demokratie vor“, sagte Mestwerdt. Gleichgültigkeit vieler Menschen aber erleichtere einen Angriff auf wichtige Fundamente der demokratischen Grundordnung, etwa die Unabhängigkeit der Gerichte oder die Freiheit der Presse. Die stärkere juristische Absicherung etwa des Bundesverfassungsgerichts gegen aktuelle politische Einflussnahmen sei richtig, löse aber das Problem nicht: „Die Bürger müssen die demokratische Ordnung schützen. Tun sie es nicht, geht sie verloren.“ Ministerpräsident Stephan Weil verwies auf den Vertrauensverlust, den demokratische Institutionen erleiden. Dabei dürfe man aber nicht vergessen, dass die Bundesrepublik – zumindest im Westen – 75 Jahre lang Frieden, Freiheit und stetig wachsenden Wohlstand erlebt habe. „Viele Menschen würden gern so leben wie wir“, betonte er.
Landtagspräsidentin Hanna Naber (SPD) appellierte an die demokratischen Politiker, „ständig die geistige Auseinandersetzung zu suchen“, dabei aber immer die Regeln von Respekt und Anstand zu beachten. Die Prinzipien der Verfassung verwirklichten sich nicht von selbst, das Zutun der Demokraten sei notwendig. In der an den Festakt anschließenden Landtagsaussprache über eine Europa-Resolution sagte CDU-Fraktionschef Sebastian Lechner, für künftige Verfassungsänderungen sei „das Prinzip der Subsidiarität“ ratsam: „Der Bund regiert in die Kompetenzen der Länder hinein, wir tun es als Land gegenüber den Kommunen. Das ist falsch. Wir brauchen mehr Mut zum Föderalismus.“
Dieser Artikel erschien am 21.05.2024 in der Ausgabe #091.
Karrieren, Krisen & Kontroversen
Meilensteine der niedersächsischen Landespolitik
Jetzt vorbestellen