9. Feb. 2023 · Inneres

Plebiszit-Freunde enttäuscht: Zahl der Bürgerbegehren in Niedersachsen sinkt

Die Zahl der Bürgerbegehren ist 2022 gesunken: Das ist die Bilanz des Interessenverbandes „Mehr Demokratie“. | Foto: Mehr Demokratie e.V.

Im Jahr 2022 wurden in Niedersachsen deutlich weniger neue Bürgerbegehren gestartet als in den Jahren zuvor. So gab es nur sechs neue Bürgerbegehren, es fanden fünf Bürgerentscheide statt. Das ist die Bilanz, die der Interessenverband „Mehr Demokratie“ am Donnerstag gezogen hat. Die Zahl der Bürgerbegehren sank somit seit dem Rekordjahr 2020 (40 Bürgerbegehren) um 85 Prozent. Zum Vergleich: Im Jahr 2021 wurden zwanzig Bürgerbegehren gestartet. „Diese Schwankungen sind normal, das gibt es immer wieder“, erklärt Dirk Schumacher, Landessprecher von „Mehr Demokratie“. Gleichwohl hält er gesetzliche Anpassungen, etwa in der Kommunalverfassung, für sinnvoll – wenn man der Ansicht sei, direktdemokratische Einflüsse auf die Entscheidungsfindung vor Ort verstärken zu wollen. Wie viele Bürgerbegehren es gibt, hängt letzten Endes einfach von der Menge kommunalpolitischer Themen ab, die vor Ort strittig sind und sich für ein Bürgerbegehren eignen, betonte der Sprecher von „Mehr Demokratie“. 

Der Fachverband hat die 2022 geschehenen Aktivitäten näher untersucht und seine Schlüsse daraus gezogen. Der inhaltliche Schwerpunkt habe im vergangenen Jahr bei öffentlichen Sozial- und Bildungseinrichtungen (vier Begehren) gelegen, zweimal ging es um Wirtschaftsprojekte. Klima- und verkehrspolitische Bürgerbegehren wurden im Gegensatz zu den Vorjahren 2022 in Niedersachsen gar nicht gestartet. Von den sechs gestarteten Bürgerbegehren seien drei inzwischen beendet: In zwei Fällen wurden Bürgerbegehren für unzulässig erklärt, ein weiteres Mal entsprach der Rat den Forderungen des Bürgerbegehrens. Zwei der drei noch laufenden Bürgerbegehren hätten jüngst erst mit der Unterschriftensammlung begonnen, im dritten Fall seien die Unterschriften Anfang Februar eingereicht worden. Diese Angaben würden nun in den Behörden überprüft. „Das sind drei potentielle Bürgerentscheide“ erklärt Schumacher. Die fünf Bürgerentscheide im Jahr 2022 resultieren allesamt aus Bürgerbegehren, die im Jahr 2021 gestartet wurden. Diese Zahl liegt nach Einschätzung von Schumacher eher im langjährigen Mittel. Von den fünf Bürgerentscheiden endeten zwei im Sinne der Bürgerbegehren jeweils mit sehr deutlicher Mehrheit, in drei Fällen überwogen die Nein-Stimmen. „Immerhin ist kein einziges Bürgerbegehren am Zustimmungsquorum gescheitert, das hatten wir zuletzt 2016/2017“, erklärt der Interessensverband. Es sei also nirgendwo der Fall gewesen, dass eine Mehrheit mit Ja stimmte, die Zahl der abgegebenen Ja-Stimmen gemessen an einem Prozentsatz der Wahlberechtigten insgesamt aber nicht ausreichte. Thematisch ging es um öffentliche Sozial- und Bildungseinrichtungen (1), öffentliche Infrastruktur- und Versorgungsprojekte (2) sowie um Wirtschafts- oder Verkehrsprojekte (je 1).

Ein Sonderfall sei ein erneuter Bürgerentscheid im Landkreis Grafschaft Bentheim im vergangenen November. Hier wollte der Kreistag die 2021 per Bürgerentscheid beschlossene Sanierung einer Eislaufhalle abwenden, indem er einen erneuten Bürgerentscheid, diesmal initiiert vom Gremium der Kommunalpolitiker, in Gang brachte. Eine Kostenexplosion war von den gewählten Repräsentanten befürchtet worden. Ist nun mit dem zweiten Bürgerentscheid das Instrument der direkten Demokratie entwertet worden, weil Kommunalpolitiker es sich zunutze gemacht haben? Schumacher widerspricht und meint: Dieses Vorgehen „ist durchaus plausibel und nicht skandalös“. Nach einem erfolgreichen Bürgerentscheid kann ein Stadtrat erst nach einer Frist von zwei Jahren einen neuen Beschluss zum selben Thema fassen. Der Bürgerentscheid kann aber durch einen anderen Bürgerentscheid (einen sogenannten „Ratsentscheid“) aufgehoben werden. Bis heute wurde in diesem Fall allerdings noch kein Abstimmungstermin festgelegt. Zunächst gab es rechtliche Fragen, nun sei ein Investor aufgetaucht. Es sei damit offen, ob die Abstimmung noch stattfindet. Diese sogenannten Ratsentscheide zur Änderung eines vorangegangenen Bürgerentscheides gab es in Niedersachsen nach Mitteilung des Interessenverbandes bislang nur dreimal.

Schumacher sieht weiterhin großen Reformbedarf. Die Hürden bei Unterschriftensammlung und Abstimmung müssten runter, die Themenausschlüsse deutlich reduziert werden. Insgesamt müsse das Verfahren bürgerfreundlicher werden. Die Kommunen müssen dazu verpflichtet werden, vor Bürgerentscheiden ein Abstimmungsheft mit Pro- und Contra-Argumenten an alle Abstimmungsberechtigten zu verschicken. Durch diese Vereinfachungen stiegen die Chancen, dass Menschen auf kommunaler Ebene tatsächlich an Entscheidungen mitwirken können. Seit Einführung im Jahr 1996 wurden in Niedersachsens Kommunen 445 Bürgerbegehren gestartet, vier Ratsreferenden wurden initiiert. 139 mal mündeten sie in einen Bürgerentscheid. 65 mal endete ein Bürgerentscheid im Sinne der Initiatoren. Die Zahl der jährlich gestarteten Bürgerbegehren schwankt in Niedersachsen zwischen einem und 40.

Dieser Artikel erschien am 10.2.2023 in Ausgabe #025.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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