27. Aug. 2020 · 
Landwirtschaft

Plädoyer für eine mutigere Agrarwende in Deutschland und in der EU

Das Ziel ist klar: Glückliche Tiere, glückliche Landwirte, glückliche Konsumenten. Doch wie genau lässt sich mehr Schutz der Kreaturen in der Land- und Fleischwirtschaft umsetzen? Gestern trafen sich in Berlin die 16 Landes-Agrarminister gemeinsam mit Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU), um die tierwohlgerechte Umgestaltung der Nutztierhaltung voranzubringen. Was so simpel klingt, ist jedoch eine Mammutaufgabe: Die Gesellschaft fordert bessere Haltungsbedingungen für Rinder, Schweine und Hühner, kauft aber trotzdem meist das günstigste Produkt. Die Agrar-Branche ist zwar bereit, die Standards umzusetzen. Sie findet aber gar nicht genug Abnehmer für die teureren Waren, um von den Einnahmen den nötigen Stallumbau zu finanzieren. Und die Politik möchte zwar die Standards erhöhen, will aber keine Seite so richtig zwingen – weder die Nutztierhalter zum Umbau, noch die Konsumenten zur Wahl des teureren Produkts. Klöckner selbst ist sich der Dimension des Unterfangens bewusst: „Das ist ein Umbau, ein Systemwechsel, der über eine Legislaturperiode hinausreicht“, erklärte sie vor Beginn der Sonder-Agrarministerkonferenz. „Es bedarf eines gesellschaftlichen Konsenses und eines Generationenvertrages.“
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Um das Problem zu lösen, sind nun zwei Instrumente in Kombination vorgesehen: Zum einen ein dreistufiges Tierwohllabel, das dem Konsumenten anzeigt, unter welchen Bedingungen die Tiere gehalten wurden. Zum anderen eine Tierwohlabgabe, mit der langfristig der Umbau von Ställen finanziert werden soll, um den Anteil der guten Haltungsbedingungen zu erhöhen. Zu Beginn des Jahres hat dazu die sogenannte Borchert-Kommission unter Leitung des früheren Bundesagrarministers Jochen Borchert (CDU) einen ambitionierten Plan vorgestellt. Damals wurde erstmals deutlich, wie radikal der bevorstehende Wandel werden könnte. Auch Borchert sprach von nicht weniger als einem Systemwechsel – einer nahezu vollständigen Abkehr von der Massentierhaltung innerhalb der kommenden 20 Jahre. Das Ziel, auf das sich die Kommission verständigt hatte: Bis 2040 soll die zweite Stufe des Tierwohllabels zum Standard werden, die Produkte der höchsten Stufe, also nahe Öko-Standard, sollen bis dahin mindestens zehn Prozent Marktanteil erzielen. Um das Ziel zu erreichen, schlägt die Kommission einen Deal zwischen Landwirten und Staat vor: Der Staat erhebt künftig eine Sonderabgabe auf alle tierischen Produkte. Die Nutztierhalter verpflichten sich im Gegenzug, ihre Lebensmittelproduktion gemäß den politischen Vorgaben umzustellen. Sie erhalten dafür langfristig garantierte Ausgleichszahlungen. Die Gefahr, dass sich der kostspielige Umbau eines Stalls am Markt nicht refinanzieren könnte, weil der Kunde die Produkte verschmäht, soll dadurch abgewendet werden. Flankiert werden soll diese Finanzierungshilfe für Stallneubauten durch Erleichterungen im Baurecht – denn häufig stehen derzeit die gesetzlichen Vorgaben dem Tierwohl im Wege.

Der Konsument ist furchtbar inkonsequent

Borchert-Plan und Tierwohllabel sind in Kombination der Versuch, den gordischen Knoten der deutschen Nutztierhaltung zu zerschlagen. Die Grundannahme ist die Erkenntnis, dass weder Verbote allein noch der Markt allein das Problem bei der Nutztierhaltung werden lösen können. Verbote, wie etwa das häufig kritisierte Kürzen von Schnäbeln bei Hühnern oder der Ringelschwänze bei Schweinen, würden global betrachtet wenig bringen. Die hiesige Nutztierbranche würde größtenteils ins Straucheln kommen, die Nachfrage nach günstigem Fleisch würde aber von ausländischen Betrieben bedient – zu ebenfalls schlechten Haltungsbedingungen. Zudem hat die Vergangenheit gezeigt, dass auch der Konsument durch sein Kaufverhalten einen derartigen Wandel nicht herbeiführt. Denn der Konsument ist furchtbar inkonsequent. So stimmt zwar ein Großteil der Bevölkerung in Befragungen der Aussage zu, dass das Wohl der Tiere wichtig sei. Die Menschen wollen, dass sich an den Haltungsbedingungen von Rindern, Schweinen und Hühnern etwas ändern muss. Allein: Vor dem Supermarktregal knicken doch die meisten ein und kaufen das, was eben da ist – und häufig genug dann auch einfach das günstigste Produkt. Das staatliche Tierwohllabel soll dem Konsumenten künftig bei seiner Kaufentscheidung helfen. Doch um eine echte Wirkung entfalten zu können, müsste das Label nicht nur verpflichtend sein, sondern von den beschriebenen Umbauhilfen flankiert werden – und am besten sollte es sogar EU-weit gelten.

Internationale Dimension fehlt weitgehend

Denn an dieser Stelle bleibt Klöckners Vorhaben dann eben doch nur ein eingeschränkter Systemwechsel. Es werden zwar zahlreiche Stellschrauben angefasst, aber noch nicht alle: Die internationale Dimension scheint weitgehend unbeachtet zu bleiben. Was ist mit der EU-Agrarpolitik, was ist mit der Exportorientierung der deutschen Agrar-Branche? Die EU-Agrarsubventionen haben zu lange große Konzerne den kleinen Betrieben vorgezogen und im internationalen Handel Ungerechtigkeit zementiert. Die subventionierte Lebensmittelproduktion in Deutschland richtet sich auf den Weltmarkt, dringt auf niedrige Preise, konkurriert mit Billigproduktion im Ausland und ist daher nicht allein durch die Förderung von Stallneubauten zu beeinflussen. Setzt die Bundespolitik den Borchert-Plan in die Tat um und führt zudem ein (vielleicht irgendwann verbindliches) Tierwohllabel ein, käme man dem Tierwohl sicherlich einen Schritt näher. Doch im Vergleich zum gigantischen gordischen Knoten der europäischen oder gar internationalen Agrarpolitik bleibt das deutsche Problem dann doch nur ein Knötchen. Entweder müssten die Standards auch europaweit gelten, oder Deutschland müsste auch beim Import seine Tierwohlstandards verbindlich machen – und damit de facto Importverbote verhängen. Das wäre ein echter Systemwechsel. Von Niklas Kleinwächter
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #149.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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