Pflegenotstand: Wohlfahrtsverbände gehen in die Offensive
In Niedersachsen geht eine Gruppe von Wohlfahrtsverbänden für eine bessere Finanzierung der ambulanten Pflege in die Offensive. Arbeiterwohlfahrt (AWO), Caritas, Diakonie und die Sozialstationen im Städte- und Gemeindebund haben dazu mithilfe einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ein Kalkulationsmodell erarbeitet, mit dem die komplex abgerechneten Leistungen transparent gemacht werden sollen. „Bisher haben wir versucht, unsere Leistung für den von den Kostenträgern geforderten Preis zu erbringen. Jetzt können wir nachweisen, was wir erbringen und was diese Leistung konkret kostet“, erklärt Hans-Joachim Lenke, Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen. So gebe es bei den eine Millionen Hausbesuchen pro Jahr jeweils eine Wegepauschale von 3,83 Euro. „Wir benötigen aber 4,40 bis 4,50 Euro, weil wir tarifkonform bezahlen und das auch bedeutet, dass die Fahrt zum Patienten als Arbeitszeit abgerechnet wird.“
Anständige Träger, die kein Geld aus dem System ziehen
Man müsse selbstkritisch eingestehen, dass man in den vergangenen Jahren dem stetigen Preisdruck auch ein Stück weit nachgegeben habe. Dadurch sei es zu einer starken Arbeitsverdichtung bei den Pflegekräften gekommen. „Wir erzeugen Druck, weil wir jetzt eins zu eins nachweisen können, welche Kosten wir haben“, sagt Rifat Fersahoglu-Weber, Vorstandsvorsitzender des AWO-Bezirksverbands Braunschweig. Von der Politik wünscht er sich mehr als Sonntagsreden. „Es gibt hier anständige Träger, die nicht Geld aus dem System ziehen, das in Gesellschaftertaschen fließt.“
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Die Wohlfahrtsverbände, die mit mehr als 200 Diensten mehr als 25.000 Pflegebedürftige im Land versorgen, positionieren sich mit ihrer Initiative klar gegen private Pflegeunternehmen, denen sie schwere Vorwürfe machen. Achim Eng, Sprecher der Caritas in Niedersachsen, bezeichnet es als Skandal, dass in der Pflege „aggressive Marktkräfte“ versuchten, Tarife zu umgehen und die Arbeitsbelastung der Mitarbeiter zu verdichten. „Wir sind tariftreu und wollen Menschen halbwegs anständig bezahlen, obwohl es da bei uns auch noch Luft nach oben gibt“, sagt Eng. „Bestraft wird, wer ordentlich bezahlt“, sagt auch Fersahoglu-Weber. Als Beispiel zitierten die Vertreter der Wohlfahrtsverbände aus einem ZDF-Beitrag, wonach in öffentlich-rechtlichen und frei gemeinnützigen Pflegeheimen die Personalkosten 62 Prozent ausmachten, bei kommerziellen Ketten dagegen nur 50 Prozent. Die Zahlen des TV-Beitrags bezogen sich auf Berechnungen des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung.
Patienten müssen teilweise abgewiesen werden
Mit ihrer Initiative wollen die Verbände die teilweise schwierige Situation in der Pflege in den Griff bekommen. „Wir laufen in den Pflegenotstand“, warnt AWO-Vertreter Fersahoglu-Weber. „Wir bekommen schon jetzt im ländlichen Raum kaum genügend Personal. Manchmal müssen deshalb schon Patienten abgewiesen werden.“ Auch Hans-Joachim Lenke von der Diakonie bezeichnet die Situation in der Pflege als ausgesprochen angespannt. „Die Pflegekräfte sind am Rand ihrer Leistungsfähigkeit. Das liegt an der Arbeitsverdichtung, die sich aufgrund der finanziellen Rahmenbedingen in den vergangenen Jahren ergeben hat.“ Dadurch habe auch die Attraktivität des Berufes gelitten. Inzwischen sei es schwierig, neue Mitarbeiter zu finden. „Es geht uns nicht um mehr Lohn, sondern um Arbeitsbedingungen, die die Motivation der Mitarbeiter erhalten“, sagt Lenke. Ums Geld geht es aber natürlich auch, meint Oliver Kamlage vom Niedersächsischen Städte- und Gemeindebund: „Wir müssen den Beruf attraktiver machen und dazu gehört auch eine attraktive Vergütung.“
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #32.