Die deutsche Papierindustrie ist eine der größten der Welt. Vor Corona erwirtschaftete die Branche einen Jahresumsatz von 45,41 Milliarden Euro. Dann brach die Nachfrage infolge der Pandemie ein, und Lieferkettenengpässe führten zu einer Preisexplosion bei den Rohstoffen. Nun steckt die gesamte Papierbranche in der Krise.

Zeitgleich kämpft man auf der anderen Erdhalbkugel mit einem ganz anderen Problem: In Costa Rica fallen jährlich 4,5 Millionen Tonnen Ananasabfall an. Als Exportgut Nummer eins hat die Ananas der Banane und dem Kaffee den Rang abgelaufen. Doch die unsachgemäße Entsorgung der organischen Abfälle ruiniert viele Bauern und Viehzüchter. Das hannoversche Startup „eco:fibr“ hat für beide Probleme, die auf den ersten Blick ganz unterschiedlich wirken, eine gemeinsame Lösung gefunden. Die Studenten haben eine Methode entwickelt, mit der sie aus Ananasresten einen Zellstoff für die Papierproduktion herstellen können. Die jungen Unternehmer glauben, dass die Markteinführung ihres Produkts die Abholzung von 860.000 Bäumen jährlich verhindern könnte.

Es ist das Jahr 2018. Startup-Mitgründerin Merit Ulmer fliegt zum ersten Mal nach Costa Rica. Seit einem Jahr forscht die Life-Science-Studentin der Leibniz Universität Hannover zusammen mit Kommilitonen daran, wie man Pflanzenabfall für die Textilproduktion weiterverarbeiten kann. Das Ziel der Forschungsgruppe: Sie wollen Garn aus Bananenresten gewinnen. In Südamerika stellen Ulmer & Co. jedoch fest, dass für die Einheimischen nicht die Entsorgung der Bananenabfälle, sondern von Ananasresten die größere Herausforderung ist. „Das Problem ist, dass die Ananasblätter rechtlich in Costa Rica nicht kompostiert werden dürfen“, erklärt Ulmer heute im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick.
Der Grund ist die Stechfliege Stomoxys Calcitrans. Der sieben Millimeter große Wadenstecher nistet am liebsten im Kompost, wenn er nicht gerade Menschen oder Nutztieren minutenlang das Blut aussaugt und dabei Krankheiten überträgt. Die Plantagenarbeiter müssen die Ananasblätter deswegen vernichten, wobei es zwei Möglichkeiten gibt: Zerhäckseln oder verbrennen. Aus Kostengründen wird meistens die zweite Methode gewählt und oft werden die Ananasblätter vor dem Verbrennen auch noch zusätzlich mit Pestiziden besprüht. Die Folge sind ein steigender CO2-Ausstoß und eine Belastung des Grundwassers. Eine Lösung des Problems ist bisher nicht in Sicht. Im Gegenteil. „Costa Rica ist seit einigen Jahren Weltmarktführer im Ananashandel. Seitdem hat das Problem zugenommen. Jährlich werden rund 3,4 Millionen Tonnen Ananasfrüchte angebaut“, sagt Ulmer.
"Costa Rica ist seit einigen Jahren Weltmarktführer im Ananashandel. Seitdem hat das Problem zugenommen."
Merit Ulmer

Zurück in Deutschland ändert das Startup seinen Ansatz. Nun forschen die Studenten an der Zellstoffgewinnung aus Ananasblättern. In dem Prozess wird die Cellulose von der Zellwand der Pflanzenzelle getrennt. Die daraus gewonnene faserige Masse bezeichnet man als Zellstoff, der nach Altpapier am zweithäufigsten für die Papierherstellung genutzt wird. Bisher wird Zellstoff zu 90 Prozent aus Holz gewonnen, das sich dank eines Cellulose-Gehalts von knapp 40 Prozent besonders für die Papierverarbeitung eignet. Doch wenn es nach den Hannoveranern geht, könnte die Ananaspflanze dem Holz schon bald Konkurrenz machen. Der Cellulose-Gehalt der Tropenfrucht liegt bei beachtlichen 36,88 Prozent. Zusätzlich beträgt der Lignin-Anteil knapp acht Prozent. Für die Zellstoff-Herstellung ist das von Vorteil, denn Lignin ist dafür verantwortlich, dass die Cellulose-Fasern verkleben und das Material an Festigkeit gewinnt. Je höher der Lignin-Gehalt, desto schwieriger und verlustreicher lässt sich die Cellulose vom Lignin trennen. „Anders als bei der Holzstoffproduktion braucht man bei uns so einen aggressiven Prozess nicht“, sagt Mitgründer Julian Kolbeck. Sein Startup kann deswegen auf Sulfate verzichten und stattdessen mit „reinen Substanzen“ arbeiten, die man später nicht recyceln muss. Zum Vergleich: Bei Holz ist der Lignin-Gehalt je nach Baumart mehr als dreimal so hoch und liegt zwischen 22 und 32 Prozent.

Wie aber genau entsteht die Öko-Faser aus Hannover? Ulmer und Kolbeck erklären den Produktionsprozess wie folgt: Erst werden die Ananasblätter zerkleinert und gekocht, dann wird die Cellulose von der Zellwand extrahiert. Im nächsten Schritt trennt man die Flüssigkeit vom Feststoff und trocknet anschließend den gewonnenen Zellstoff, ehe er komprimiert wird. Der gepresste Zellstoff wird dann an Papierunternehmen verkauft. Im Labor dauert der ganze Prozess bisher drei Tage. „Wir arbeiten noch händisch, das dauert länger. Später wird das alles automatisiert“, sagt Ulmer. In der Praxis soll dann die ganze Umwandlung innerhalb eines Tages abgeschlossen sein. In den vergangenen Monaten hat sich das Team um Ulmer noch einmal neu formiert. Zusammen mit Julian Kolbeck und Michelle Spitzer möchte Ulmer die Arbeit bei dem 2017 gegründeten Startup hauptberuflich weiterführen. In den nächsten Monaten wollen die drei Gründer ihre Firma „eco:fibr“ (sprich: „Eco Fibre“) als GmbH anmelden. Zeitgleich beschäftigen sie sich mit der Patentenanmeldung. Finanziert wird das Startup nach wie vor über Förderprogramme, aktuell laufen gerade die beiden nächsten Bewerbungen.
"Wir wollen einmalig fünf Tonnen Ananasreste in Zellstoff umwandeln und damit beweisen: Der Prozess funktioniert nicht nur im Labor."
Julian Kolbeck
Noch in diesem Jahr testen die Lebenswissenschaftler die Zellstoffgewinnung abseits der Laborbedingungen. Eine Plantage und ein Pilotpartner aus der Spezialpapierbranche wurden bereits angefragt, um den Prozess einmal durchzuspielen. „Wir wollen einmalig fünf Tonnen Ananasreste in Zellstoff umwandeln und damit beweisen: Der Prozess funktioniert nicht nur im Labor“, sagt Kolbeck. „Unser Fokus liegt auf einer ersten Pilotplantage, von der wir ausgehend Schritte in die industrielle Produktion entwickeln wollen.“ Langfristig sollen in Costa Rica Produktionshallen entstehen, die vor Ort die Ananasblätter in Zellstoff umwandeln. Das ist nicht nur nachhaltiger, sondern auch einfacher, wie Michelle Spitzer erklärt. „Die Pflanzen müssten sonst den ganzen Weg über gekühlt werden.“ Erst nach der Produktion wird der Zellstoff nach Deutschland exportiert und hierzulande weiterverarbeitet. Erste Unternehmen haben bereits Interesse signalisiert, unter anderem ein Tapetenhersteller aus Erfurt. „Viele sind auf der Suche nach umweltfreundlicheren Alternativen“, sagt Kolbeck. Der Austausch mit den Unternehmen hilft „eco:fibr“ dabei, die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe besser zu analysieren und den Zellstoff zu optimieren. Der Markteinstieg ist dann in Deutschland geplant.

Fun Fact über die Ananas
Die Ananasstaude trägt normalerweise nur zweimal in ihrem Leben eine Frucht – und zwar jeweils nur eine einzige. Anschließend bildet die Pflanze Ableger, die Mutterpflanze wird ausgegraben und muss dann verbrannt oder zerhäckselt werden.