Olaf Lies will einen Biontech-Erfolg auch in Niedersachsen möglich machen
Die deutsche Startup-Szene versammelt sich gerne an Hotspots. Metropolen wie Berlin, München und Köln ziehen Gründer magisch an, aber auch starke Hochschulstandorte wie Aachen, Mannheim oder Münster sind gefragt. Um im Wettstreit mit den Champions nicht in die Bedeutungslosigkeit abzudriften, verfolgt Niedersachsen deshalb folgenden Ansatz: „Wir brauchen Kernzentren aus starken Hochschulen und Unternehmen, die wirtschaftliche Anwendungen schaffen“, betonte Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) beim diesjährigen Startup-Day in Göttingen.
Neben Hannover (verschiedene Branchen), Braunschweig (Mobilität), Osnabrück (Nahrung) und Oldenburg (Digitales) zählt die südniedersächsische Universitätsstadt zu den stärksten Gründungsstandorten des Landes. In Göttingen liegt der Schwerpunkt auf den Agrar- und Biowissenschaften, was gemäß dem niedersächsischen Ansatz auf Hochschule und Universitätsmedizin sowie hiesige Unternehmen wie KWS Saat, Symrise, Ottobock oder Sartorius zurückzuführen ist. Und gerade der letztgenannte Pharma- und Laborzulieferer ist es auch, der für den Startup-Standort sehr ambitionierte und langfristige Ziele verfolgt. Sven Wagner, Head of Business Development bei der Sartorius AG und Co-Geschäftsführer der Life-Science-Factory, will Göttingen als Biotechnologie-Zentrum weiter ausbauen und auf Augenhöhe mit Heidelberg und München bringen. Und auch der Wirtschaftsminister meint: „Wir müssen jetzt die nächste Stufe zünden.“
Life-Science-Factory kostete 15 Millionen Euro
In das Wettrennen um die besten Standortbedingungen für Biotechnologie-Startups steigt Göttingen zwar mit etwas Verspätung ein, hat dafür aber mit der Life-Science-Factory schon ein beachtliches Alleinstellungsmerkmal. Das Startup-Zentrum bietet seinen Mietern nicht nur Coworking-Flächen und einen Maschinenpark zur Prototypenfertigung mit 3D-Druckern, CNC-Metallfräsen und Laser-Cuttern an. In der früheren Sartorius-Zentrale stehen außerdem vollausgestattete Laborbänke zur Verfügung. „Labore sind mit das Teuerste, was es gibt. Und Startups, die frisch aus der Uni rauskommen, haben in der Regel kein Geld, um sich Laborflächen einzurichten“, weiß Wagner. V
on den 15 Millionen Euro, die das Startup-Zentrum gekostet hat, seien allein zwei Millionen Euro in die Ausstattung des „Lab Space“ geflossen. Hinter dieser Investition steckt die Idee, den Gründern so viel Organisation und Logistik wie möglich abzunehmen. „Die Forscher sollen sich auf das konzentrieren können, was sie am besten können: Forschen“, betont Wagner. Zwar habe jedes Startup ein eigenes Spezialgebiet, weshalb die Grundausstattung nicht alle Bedürfnisse zu hundert Prozent abdecken könne. Die Labormodule lassen sich jedoch individuell anpassen. „Nur Radioaktivität und Tiere haben wir hier nicht“, so der Geschäftsführer. Außerdem sollen die Startups auch nicht ewig hier bleiben. „Die Life-Science-Factory ist eine Startrampe. Wir wollen, dass die Startups hier ihre Reise beginnen und nach zwei, drei Jahren sagen: Wir ziehen aus, wir müssen uns eh vergrößern“, sagt Wagner.
Startup-Zentrum ist zu etwa 20 Prozent ausgelastet
Ein Jahr nach der Gründung nimmt die Life-Science-Factory langsam an Fahrt auf, wobei der Managing Director vor übertriebenen Erwartungen warnt. „Nur weil da plötzlich so ein Gebäude steht, sagen die potenziellen Gründer nicht auf einmal: ‚Ich will jetzt gründen‘ oder haben das Geld, um das zu finanzieren“, sagt Wagner. Das Startup-Zentrum sei mit zehn Startups derzeit erst zu etwa 20 Prozent ausgelastet. Durch den wachsenden Bekanntheitsgrad könnten sich die Existenzgründer über eine steigende Anzahl an Mitarbeiterbewerbungen freuen, und auch in der Wirtschaft steigt die Aufmerksamkeit: Immer mehr Unternehmen interessieren sich für ein „Matchmaking“ mit den Existenzgründern.
„Wir bekommen seit diesem Jahr auch Anfragen von Investoren, die sich unsere Teams angucken wollen“, berichtet Irina Reimer, Programmdirektorin der Life-Science-Factory. Bei den Interessenten handele es sich überwiegend um sogenannte Business Angels, die sich nicht nur mit Geld bei den Startups einbringen, sondern auch Knowhow und Markterfahrung beisteuern. Das ist nicht nur willkommen, sondern in vielen Fällen auch dringend nötig. „Die meisten Startups fangen im Tandem an, mit einem Supervisor und einem Mitarbeiter, der hands-on die Arbeit macht. Was fehlt, ist jemand für den strategischen Teil“, weiß Reimer. „Das Wirtschaftliche kann man gar nicht früh genug denken. Als Gründer braucht man von Anfang an einen Business-Plan – und man braucht viel Geld“, bestätigt Wagner.
„Der Erfolg von Biontech ist nicht vom Himmel gefallen. Die haben vorher 20 Jahre lang gute Arbeit gemacht.“
Sven Wagner
Um Göttingen zu einer bundesweit führenden Hochburg für Biotechnik-Startups zu machen, ist ebenfalls viel Geld nötig. Am Risikokapital für die Jungunternehmer soll es dabei nicht scheitern. Anfang des Jahres haben N-Bank, Sartorius und Universitätsmedizin einen gemeinsamen Fonds mit 12 Millionen Euro eingerichtet, der durch Privatanleger noch auf 20 Millionen Euro anwachsen soll. „Wir haben festgestellt, dass uns die Projekte aus dem Life-Science-Bereich verloren gehen, wenn wir nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, damit sie sich entwickeln können“, sagt Lies. Der Wirtschaftsminister weiß, dass der Finanzbedarf gerade in Medizintechnik und der Arzneimittelentwicklung aufgrund von langen Entwicklungszeiten besonders groß ist.
Man dürfe deswegen nicht an der falschen Stelle sparen und müsse auch mal den Mut haben, nicht nur „Auftragsarbeiten“ zu machen, sondern als ein sich als Hightech-Standort verstehendes Bundesland auch in experimentelle Bereiche investieren. „Wenn wir diese Projekte nicht voranbringen, dann gehen sie uns verloren. Das Beispiel Biontech zeigt, dass man nicht immer weiß, wann und wo man die aufgebaute Kompetenz noch brauchen kann.“ Dass das Mainzer Biotechnologieunternehmen während der Corona-Pandemie zu einer der wertvollsten deutschen Firmen aufschwingen konnte, sei kein Zufall gewesen, betont auch Wagner. „Der Erfolg von Biontech ist nicht vom Himmel gefallen. Die haben vorher 20 Jahre lang gute Arbeit gemacht“, sagt der Sartorius-Unternehmensstratege.
Klinisches Testlabor als Zukunftsvision
Die Aufbruchstimmung vor Ort ist jedenfalls da. „Hier vor Ort sind alle Stakeholder der Meinung: Jetzt ist die Zeit, jetzt muss was passieren“, sagt der Life-Science-Factory-Chef. Industrie, Wissenschaft und öffentliche Hand würden dabei alle an einem Strang ziehen. „Wir müssen die Region als Life-Science-Standort etablieren“, bringt die Grünen-Landtagsabgeordnete Marie Kollenrott das gemeinsame Ziel auf den Punkt. „Die Infrastruktur ist geschaffen. Jetzt kann man sich die Leitbilder anschauen, die man gezielt fördern möchte“, bestätigt Ottobock-Finanzchef Arne Kreitz. Das weltweit führende Unternehmen für Prothesen hat zwar seinen Sitz in Duderstadt, ist aber in Göttingen stark engagiert. Für Ottobock wäre etwa die Verknüpfung von 3D-Druck und Messtechnologie ein lohnenswertes Zukunftsthema. Der Orthopädiespezialist kann zwar schon passgenaue Prothesen aus dem Drucker anfertigen, doch die Technologie hat noch Luft nach oben. „Wie kriege ich die Information zurückgespielt, wenn eine solche Prothese passt?“, fragt Kreitz und erhofft sich hier innovative Lösungen aus der Gründer-Szene.
Wagner träumt sogar von einem klinischen Testlabor am Standort, das den Startups aus der Life-Science-Factory den nächsten großen Schritt ermöglichen würde. Eine sogenannte GMP (Good Manufacturing Practice) Facility ist jedoch ein teures Großprojekt, wie der Sartorius-Manager aus eigener Erfahrung weiß. Vor knapp zwei Jahren erst hat das Göttinger Biopharma-Unternehmen die Mehrheit am Reagenzien-Hersteller CellGenix übernommen. Die einstige Ausgründung der Uni-Klinik Freiburg entwickelt und produziert Rohmaterialien für den Zell- und Gentherapiemarkt, wozu demnächst auch eine GMP-Facility am Unternehmenssitz im Breisgau entstehen soll. Die Kosten dafür liegen laut Wagner im oberen zweistelligen Millionenbereich. Für Lies steht fest: „So etwas könnten wir nur einmal in Niedersachsen aufbauen.“ Neben Göttingen kommt aus Sicht des Wirtschaftsministers aber wenigstens noch Hannover mit seinem Medical Park für solch eine Einrichtung infrage, sodass die Südniedersachsen hier nicht konkurrenzlos sind.
„Diese Spritze rettet Kinderleben, sie kostet aber auch 2 Millionen Euro.“
Sven Wagner
Für die Göttinger Landtagsabgeordnete Kollenrott ist die Investition in den Biotech-Standort nicht nur eine wirtschafts-, sondern auch eine gesellschaftspolitische Maßnahme. „Bei solchen Entscheidungen stellt sich auch immer die Frage, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen“, sagt die 39-Jährige. Indem man den Prothesenhersteller Ottobock unterstütze, könne Niedersachsen integrativer und sozialer werden. Und auch die Förderung eines Biotechnologie-Unternehmens wie Sartorius entspreche den Vorstellungen grüner Wirtschaftspolitik. Wagner beschrieb das Geschäftsmodell des Konzerns wie folgt: „Wir wollen unseren Kunden dabei helfen, mehr Medikamente günstiger und schneller zu entwickeln und für mehr Menschen zur Verfügung zu stellen.“
Welche gesellschaftliche Relevanz das hat, werde zum Beispiel in der Gentherapie deutlich. Babys, die mit spinaler Muskelatrophie (SMA) zur Welt kommen, können heutzutage mit einem Präparat des Schweizer Pharmakonzerns Novartis von dem tödlichen Muskelschwund geheilt werden. „Diese Spritze rettet Kinderleben, sie kostet aber auch 2 Millionen Euro“, sagt Wagner und leitet für die Pharmabranche daraus folgende Pflicht ab: „Jetzt geht es darum, Techniken zu entwickeln, damit das nur noch 2500 Euro kostet.“ Startups und Ausgründungen, da sind sich die Konzernvertreter sicher, sind dabei ein wichtiger Motor. „Diese Vielfalt und Bandbreite können wir als einzelnes Unternehmen gar nicht bedienen“, sagt Ottobock-CFO Kreitz. Lies bringt es auf eine einfache Formel: „Startup heißt Ideen, Startup heißt Lösungen.“
Dieser Artikel erschien am 05.05.2023 in der Ausgabe #082.
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