Niedersachsens Startup-Szene zeigt in Braunschweig ihre Stärken und spricht über ihre Schwächen
Die gläsernen Büros auf der Galerie sind verlassen. Der Tischkicker wurde zur Seite geschoben. Vor dem Fritz-Cola-Kühlschrank steht eine Bar. Nur der kleine, fast tropisch begrünte Bach plätschert wie gewohnt in der großen Industriehalle vor sich hin. An diesem Abend ist die Startup-Szene nicht zum Arbeiten, sondern zum Feiern im Braunschweiger Trafo-Hub zusammengekommen. Rund 200 Gäste aus ganz Niedersachsen blicken zur Bühne, wo der Durchstarter-Preis 2022 verliehen wird. Preisgelder in Höhe von 80.000 Euro werden hier heute ausgegeben.
Doch angesichts der Summen, die von den angehenden Entrepeneuren zum Aufbau ihrer Geschäftsideen benötigt werden, sind das eher Trinkgelder. Schließlich wollen sie teilweise ganze industrielle Produktionsketten aufbauen, um ihre Innovationen einer breiten Konsumentenschicht anzubieten, was Investments im Millionenbereich erforderlich macht. Der Beliebtheit des Durchstarter-Preises tut das aber keinen Abbruch, denn was die Existenzgründer mindestens genauso brauchen wie Geld ist Sichtbarkeit. Und in diesem Punkt ist Niedersachsens wichtigster Gründerpreis, der unter Federführung der N-Bank vergeben wird, so etwas wie ein Ritterschlag.
Wirtschaftsminister Olaf Lies erinnert sich noch an seine erste Übergabe des Durchstarter-Preises 2013 in der Restauration des Landtags. „Das war ganz nett, hatte aber irgendwie keine Startup-Atmosphäre. Das mag nicht das alleinige sein, aber ein Stück gehört auch Kultur und Atmosphäre dazu“, sagt der gelernte Ingenieur, der vor seiner Politikkarriere selbst viele Entwicklungsprojekte betreut hat. Der SPD-Politiker wünscht sich eine engere Verzahnung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. „Die Hochschule soll nicht nur ein Ort für Studierende sein, um Ideen zu entwickeln, sondern auch ein Ort, an den man gehen kann, wenn man als Gründer oder Unternehmer Ideen hat“, sagt Lies. Die Voraussetzungen für einen politischen Wandel in diese Richtung könnten kaum besser sein, denn auch Diplom-Kaufmann Falko Mohrs outet sich in Braunschweig als Startup-Fan. „Für mich ist das Thema kein neues, sondern eines, das mich in meiner politischen Zeit immer schon begleitet und begeistert hat“, sagt der Wissenschaftsminister. Mohrs will das Ökosystem für Existenzgründer an den Hochschulen noch mehr fördern und Ausgründungen besser unterstützen.
Wo es bei diesen Ausgründungen hakt, weiß Reza Asghari. Der Professor für Hightech-Innovation und Entrepeneurship an der TU Braunschweig und der Ostfalia-Hochschule sagt: „Trotz der Erfolge der vergangenen Jahre sind wir noch am Anfang. Der Wirtschaftsraum Braunschweig-Wolfsburg ist die forschungsintensivste Region Europas. Wir können noch viel mehr machen und noch mehr Hochtechnologie-Startups hervorbringen.“ Asghari fordert eine Änderung des Niedersächsischen Hochschulgesetzes (NHG), um den Hochschulen die Gründung von Beteiligungsgesellschaften zu ermöglichen. „Wenn wir Hochtechnologie-Ausgründungen aus den Instituten durchführen, brauchen die Doktoranden immer noch Zugang zur Forschungsinfrastruktur, weil sie ihre Produkte weiterentwickeln müssen und die jungen Startups nicht über die Ressourcen verfügen, teure Forschungsanlagen anzuschaffen. Das NHG erlaubt es aber nicht, dass sie diese Infrastruktur weiter nutzen“, erläutert Asghari. Für die Hochschule könne die Bereitstellung allerdings äußerst lukrativ sein, wenn sie dafür als Gegenleistung etwa mit einer Beteiligung am Startup entschädigt werde. „Hochtechnologie-Startups sind Gold wert und wir müssen in Niedersachsen den gesetzlichen Rahmen dafür schaffen, dass Hochschulen davon profitieren können“, sagt der Entrepeneurship-Professor.
Zwei andere Anliegen an die Politik äußert Johanna Heß vom niedersächsischen Startup-Beirat. „Ich würde mir wünschen, dass wir mehr Sichtbarkeit für Niedersachsen erlangen, indem wir unsere Mittel und Institutionen gemeinsam mehr pushen und auch mit einer Sprache nach außen kommunizieren“, sagt die Chefin des Trafo-Hubs Braunschweig. Die niedersächsische Startup-Szene werde bisher bundesweit kaum wahrgenommen. „Da ist irgendwie VW, das ist so ein bisschen Food, so ein bisschen Agrar. Aber über Hannover hinaus kennt man wenig“, sagt Heß.
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Ihr Wunsch Nummer zwei: „Ich würde wahnsinnig gerne mehr Wagniskapital in die Region holen. Wir haben geile Ideen, wir haben gute Startups, aber die kriegen den Weg über die nächste Hürde nicht so richtig hin.“ Die regionalen Wachstumsfonds seien ein guter Ansatz, würden aber nicht reichen. Heß: „Wir müssen die Wagniskapital gebenden Institutionen, die nach guten Ideen suchen, auf uns aufmerksam machen und ihnen zeigen, was hier geht.“
1. Platz Kategorie „Social Innovation“: Eco:Fibre
Bei der Suche nach Investoren haben es Startups aus dem Bereich „Soziale Innovationen“ besonders schwer. „Aus Investorensicht bringen die nicht gerade den schnellsten Return on Investment. Aber sie haben eine andere Form von Rendite“, sagt Heß und verweist auf den diesjährigen Durchstarterpreis-Sieger in dieser Kategorie. Das hannoversche Startup „Eco:Fibr“ will die Abfälle der südamerikanischen Ananasplantagen, die normalerweise verbrannt werden, in Papier verwandeln. Dadurch werden zwar Unmengen an Ressourcen und CO2-Emissionen eingespart, wovon Umwelt und Gesellschaft enorm profitieren. Wenn’s jedoch ums Geld geht, bieten andere Anlagemöglichkeiten für privatwirtschaftliche Investoren deutlich bessere Renditen als die sozialen Innovationsprojekte, weiß Heß. „Damit aus unserem Startup ein richtiges Impact-Unternehmen wird, suchen wir eine Seed-Finanzierung von 300.000 Euro“, nennt Michelle Spritzer von Eco:Fibre die aktuelle Herausforderung der Existenzgründer. Das ist aber nur der erste Schritt, um die Produktion des umweltfreundlichen Ananaszellstoffs auf Industrieniveau zu heben.
Ziel der nächsten Finanzierungsphase ist es, insgesamt 6,3 Millionen Euro einzusammeln, um den Aufbau einer Großanlage in Costa Rica und den Markteintritt zu ermöglichen. Eco:Fibre-Mitgründerin Merit Ulmer kommentiert die mit 6000 Euro Preisgeld verbundene Auszeichnung wie folgt: „Der Preis ist ein Riesen-Motivationsschub. Wir haben schon durch andere Gewinne gemerkt, was danach für ein Aufruhr losgeht, was das für eine Medienreichweite generieren kann, und dass dadurch der Markt mehr auf einen aufmerksam wird.“ Platz 2 in der Kategorie gewinnt das Biotech-Startup „Bioweg“ aus Quakenbrück, das Mikroplastik in Körperpflegeprodukten durch Bioprodukte ersetzen will. Der dritte Preis geht nach Buchholz in der Nordheide, wo die Smartphone-App „aidminutes“ entwickelt wird. Das Übersetzungstool speziell für das Gesundheitssystem soll „Google Translate“ übertreffen und im Medizinbereich überflüssig machen.
1. Platz Kategorie „Science Spin-off“: Hypnetic
Sieger ist das Technologie-Startup „Hypnetic“ aus Hannover, das Energie mithilfe von hochkomprimierter Luft und nachhaltigen Materialien speichert. Der innovative Energiespeicher bietet sich für Windparkbetreiber, aber auch für Unternehmen mit eigener Photovoltaik-Anlage an. Die Wolfsburger Sentics GmbH auf Platz 2 kann mit ihrem Echtzeit-Lokalisierungssystem für eine unfallfreie Logistik in Lagerhäusern sorgen. Und die Trilitec GmbH aus Osterholz-Scharmbeck hat kleine Radarsensoren entwickelt, die zum Beispiel auf Mähdreschern eingesetzt werden können, um dort Rehkitze oder Hindernisse zu entdecken. Die Sensoren können aber auch Fremdkörper in industriellen Prozessen aufspüren.
Kategorie „Life Science“
Das Gewinner-Team ist das Startup „Allogenetics“ aus Hannover, das eine Tarnkappe für Organe erfunden hat. Prof. Rainer Blasczyk und Co. können Spenderorgane in einem ganz einfachen Verfahren quasi unsichtbar machen, sodass sie nach der Transplantation nicht als fremd erkannt und abgestoßen werden. Bisher ist das nur bei dauerhafter und aufwändiger Medikamenteneinnahme möglich. Platz 2 teilen sich der BraunschweigerStartup „Amberskin“ mit einem rein pflanzlichen Kunstleder und die Elpis Simulation GmbH aus Hann. Münden mit ihrer Software „StroQ“, die das Auftreten eines Schlaganfalls im Gehirn anhand eines digitalen Zwillings simulieren kann und damit genau auf den Patienten abgestimmte Therapien ermöglicht. Dritter Sieger ist die Sormas-Stiftung aus Braunschweig, die eine Open-Source-Software für die Früherkennung von Infektionen und Epidemie-Management programmiert hat.
Kategorie „Newcomer/Scale-up“
Insgesamt 31 Newcomer haben sich für diesen Preis beworben. Die besten drei durften ihre Geschäftsidee dem Publikum in Braunschweig präsentieren und sich einer Publikumsabstimmung stellen. Ganz vorne landet dabei die Papair GmbH aus Hannover, die Luftpolsterfolie durch Papier ersetzen will und zu 100 Prozent auf Recyclingmaterial setzt. Den zweiten Preis gewinnt die Osnabrücker „Doinstruct Software“, die Online-Tutorials für Unternehmen anbietet, damit diese ihre Mitarbeiter nicht mehr mithilfe von umständlichen Schulungen, sondern ganz einfach auf dem Smartphone weiterbilden können. Platz 3 geht an das Startup „AeroSys“. Die Osnabrücker wollen mehr Sicherheit im Flugverkehr schaffen und haben dafür den digitalen und sprachgesteuerten Co-Piloten „Goose“ entwickelt, der Einzelpiloten im Cockpit wichtige Hilfestellung geben kann.
Dieser Artikel erschien am 09.12.2022 in der Ausgabe #220.
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