Während die Bildung der Fraktionen in Deutschland für gewöhnlich nur Formsache ist, beobachtet man im EU-Parlament gut zweieinhalb Wochen nach der Europawahl einiges an Bewegung. Insbesondere am linken und rechten Rand des Parlaments ist vieles noch im Werden. So steht im Raum, dass die AfD eine neue Rechtsaußen-Fraktion bilden möchte, nachdem sie sich in vorauseilendem Gehorsam von der ID-Fraktion getrennt hat. Voraussetzung für eine Fraktionsgründung ist allerdings, dass sich mindestens 23 Mitglieder aus sieben Mitgliedstaaten zusammenfinden.
Als einzige Parteienfamilie, die geschlossen in allen 27 Mitgliedstaaten antrat, verlief die Konstituierung der EVP-Fraktion, zu der auch CDU und CSU gehören, relativ geräuschlos und rasch. „Wir waren die erste Fraktion, die komplett fertig war. Eigentlich sind wir jetzt inhaltlich startklar“, sagt die CDU-Politikerin Lena Düpont im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Die Abgeordnete aus Gifhorn wird sich weiterhin um Inneres und Agrarpolitik kümmern, Sprecherposten werden allerdings erst in der kommenden Woche gewählt. Zu erwarten ist, dass auch ihr Kollege David McAllister künftig wieder eine herausragende Position übernehmen wird. Derzeit ist er Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Der größten Fraktion im EU-Parlament gehört aus Niedersachsen zudem noch Jens Gieseke an, der bislang für die Verkehrspolitik zuständig war. Seine Arbeit an der Spitze des Handelsausschusses möchte auch Bernd Lange (SPD) gerne fortsetzen, wie er gegenüber dem Politikjournal Rundblick erklärte. Die S&D-Fraktion, der die SPD angehört, hat sich am Dienstag dieser Woche gebildet. Welche Position der zweite niedersächsische SPD-Abgeordnete, Tiemo Wölken, übernehmen wird, steht aktuell noch nicht fest.
Auch bei den Grünen befinde man sich noch im „Ankomm-Modus“, wie die einzige dort verbliebene Niedersächsin, Katrin Langensiepen, berichtet. Man müsse den Schock, wichtige Kollegen durch die Wahl verloren zu haben, nun erst verarbeiten. Insbesondere das Ausscheiden der Osteuropa-Expertin Viola von Cramon treffe die Fraktion schwer. Langensiepen vermisst aber auch weitere Abgeordnete mit sichtbaren oder nicht-sichtbaren Behinderungen. Zuwachs haben die Grünen von den insgesamt fünf Volt-Abgeordneten aus Deutschland und den Niederlanden erhalten. Zeitweise hatte es noch so ausgesehen, als würde die niederländische Delegation sich eher den Liberalen anschließen.
Die Liberalen haben sich derweil am Dienstag und Mittwoch dieser Woche in ihrer Renew-Gruppe neuformiert. Der niedersächsische FDP-Europaabgeordnete Jan-Christoph Oetjen erklärte gegenüber dem Politikjournal Rundblick, das Ziel der Freien Demokraten sei es nun, ihre Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses zu platzieren. Die Entscheidung werde voraussichtlich erst in zwei Wochen getroffen. Oetjen sieht aber gute Chancen für diese Personalie, weil die deutsche Delegation aufgrund der Freien Wähler einen Platz hinzugewonnen hat, die Franzosen und Spanier aber Sitze abgeben mussten. Mitte Juli werden auch die Posten der Vizepräsidenten des Parlaments neu gewählt, aktuell ist Oetjen einer davon.
Am Dienstag wurde bekannt, dass sich die Unterhändler von EVP, S&D sowie Renew auf ein Personaltableau für die wichtigsten Positionen in der EU verständigt haben. Die Niedersächsin Ursula von der Leyen (CDU) soll demnach Kommissionschefin bleiben, den Ratsvorsitz soll der portugiesische Sozialist António Costa übernehmen und die liberale Kaja Kallas aus Estland soll Außenbeauftragte der EU werden. Offiziell bestätigt werden müssen diese Vorschläge allerdings noch von der Runde der Staats- und Regierungschefs, die sich an diesem Donnerstag treffen.

Der optimistische Zeitplan sieht so aus, dass das Parlament dann bereits in der konstituierenden Sitzung Mitte Juli über die Führung der EU-Kommission entscheiden wird. Steht die informelle Koalition der drei Fraktionen, dürfte die Wahl unproblematisch sein – auch wenn die rechte EKR-Fraktion inzwischen die Liberalen vom dritten Platz verdrängt hat. Sollten konservative Abgeordnete Ursula von der Leyen das Vertrauen entziehen, dienen sich unterdessen die Grünen als Alternative an. Man sei ein „verlässlicher Partner“, versichert Langensiepen. Lange von der SPD plädiert „für eine stabile und formalisierte Zusammenarbeit in einem demokratischen Block“ der vier Mitte-Parteien im EU-Parlament – ohne Beteiligung rechtspopulistischer Kräfte. „Die Verschiebung der politischen Verhältnisse darf nicht zu einer Zerstörung des solidarischen Europas führen.“
Noch in den Sommermonaten soll dann das übrige Führungsportfolio aufgestellt werden. Jedes Mitgliedsland entsendet einen Kommissar, die Verteilung der Ressorts variiert jedoch und ist Teil eines vielschichtigen Aushandlungsprozesses. Die Größe der Staaten spielt dabei ebenso eine Rolle wie das Abschneiden der Parteien der jeweiligen Regierung. Die Kommissar-Anwärter müssen anschließend noch einzeln in den Ausschüssen des Parlaments vorsprechen, voraussichtlich im September oder Oktober. Diese Regelung ist zwar nicht vertraglich festgehalten, ist aber Ausdruck des wachsenden Selbstbewusstseins der Parlamentarier, ohne deren Zustimmung die Kommission nicht gebildet werden kann.