Wenn man sich ungestört und fernab der Öffentlichkeit treffen möchte, ist die Gemeinde Rehburg-Loccum im niedersächsischen Landkreis Nienburg ein überaus geeigneter Ort. Die evangelische Akademie Loccum ist ein ruhiger, ein abgeschiedener Ort der Einkehr, ein Treffpunkt für Weiterbildung und gut geeignet, um neue Gedanken zu fassen. Deshalb wählte die Hanns-Lilje-Stiftung diesen Ort für eine bemerkenswerte Vereinigung: Erstmals seit ihrer formalen Auflösung durch das Putin-Regime trifft sich dort an diesem Wochenende die Führung der Menschenrechtsorganisation Memorial, um endlich wieder Auge in Auge über die Zukunft ihres Engagements rund um Erinnerung, Aufarbeitung, Menschenrechte und Frieden zu sprechen.

Irina Scherbakowa und Christoph Dahling-Sander im Gespräch mit Journalisten. | Foto: Kleinwächter

Organisiert und auch finanziert hat diese Zusammenkunft die Hanns-Lilje-Stiftung aus Hannover. Deren Geschäftsführer, Prof. Christoph Dahling-Sander, erklärte am Freitag vor Journalisten, man habe sich in der Stiftung nach dem Kriegsausbruch im vergangenen Jahr gefragt, welchen Beitrag man in dieser Situation leisten könne, und sei zu dem Entschluss gekommen, zivilgesellschaftliche Organisationen in Russland unterstützen zu wollen. „Wir wollten sichtbar machen, dass es auch noch das andere Russland gibt“, sagte Prof. Dahling-Sander. Diejenigen, die sich für dieses andere Russland engagierten, sollte praktische Hilfe erhalten.

„Wir wollten sichtbar machen, dass es auch noch das andere Russland gibt“

Prof. Christoph Dahling-Sander

Deshalb habe er im Sommer des vergangenen Jahres Kontakt zu Irina Scherbakowa aufgenommen, einem Gründungsmitglied von Memorial, das nach Kriegsbeginn nach Deutschland geflüchtet war und nun in Berlin lebt. Der Umstand, das Memorial im vergangenen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, verzögerte dann die konkrete Umsetzung. Putins Reaktion auf die Bekanntgabe der Auszeichnung durch das Nobel-Komitee macht die Zusammenkunft derweil noch viel wichtiger. Denn am selben Tag im Oktober 2022 hat der Kreml den Hauptsitz der Organisation in Moskau beschlagnahmen lassen.

30 Jahre Erinnerungs- und Friedensarbeit

Während Scherbakowa am Freitagabend im Rahmen des Hanns-Lilje-Forums in Hannovers Marktkirche auch öffentlich sprach, bleiben die anderen Teilnehmer der Zusammenkunft in Loccum allerdings geheim – aus Gründen der Sicherheit. Nach der Tagung im Kloster kehren einige der rund 30 Gäste wieder nach Russland zurück, wo sie sich noch immer in historischen, archivarischen und Bildungsprojekten engagieren, wie Scherbakowa berichtet.

Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa dankt Christoph Dahling-Sander und der Lilje-Stiftung für die Gelegenheit, sich in Loccum zu treffen und in der Marktkirche Hannover über ihre Arbeit berichten zu können. | Foto: Stefan Heinze

Seit über 30 Jahren setzt sich Memorial in dieser Weise dafür ein, dass die politische Gewaltherrschaft des Stalinismus und der Sowjetunion historisch aufgearbeitet wird – und dass die Menschenrechte auch in der Gegenwart Geltung finden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat die Organisation Geheimarchive geöffnet, Denkmäler errichten lassen, den namenlosen Opfern ihre Namen zurückgegeben.

All das war dem Putin-Regime ein Dorn im Auge, schließlich gründet sich dessen Macht auf einer Umdeutung der russischen Geschichte, die seine Herrschaft in eine Tradition mit dem Zarenreich stellt und auch den Krieg gegen die Ukraine in seiner ganzen Grausamkeit rechtfertigt. Spätestens als Memorial in den 1990ern Menschenrechtsverletzungen im russischen Krieg gegen Tschetschenien dokumentierte, begannen die Eliten damit, der Organisation Steine in den Weg zu legen.

Memorial-Mitarbeiter suchen Nischen

Obwohl „Memorial International“ in Russland nun aufgelöst wurde, wird die Arbeit in anderer Form fortgesetzt. Denn gänzlich verboten hat man die Organisation nicht. Memorial funktioniere seit jeher als horizontales Netzwerk, das verschiedene Organisationen mit demselben Anliegen zusammengeführt hat, erklärt Scherbakowa. Gut ein Dutzend dieser Organisationen seien noch immer in Russland aktiv, sie versuchen es zumindest. Von Tag zu Tag werde es komplizierter.

Ein wichtiges Instrument des Regimes sei das 2014 verabschiedete Agentengesetz, auf dessen Grundlage zahlreiche Nichtregierungsorganisationen zu Staatsfeinden erklärt wurden. Scherbakowa beschreibt, wie die Wissenschaftler und Aktivisten nun nach Nischen suchen, in denen sie weitermachen können, etwa mit Archivarbeit oder Führungen, die sie anbieten.


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Ein historischer Glücksfall für die Abteilung der Erinnerungsarbeit war ausgerechnet die Corona-Pandemie. Weil keine Veranstaltungen in den ansonsten meist überfüllten Räumen von Memorial angeboten werden konnten, habe man sich darangemacht, die eigenen Archive zu digitalisieren. Rund 80 Prozent der Unterlagen, die beispielsweise Informationen zu politisch Verfolgten und Opfern der Gewaltherrschaft beinhalten, habe man so vor dem Zugriff des Staates retten können. Wo sich die Materialien jetzt befinden, will man allerdings lieber geheim halten. Ein weiterer Schwerpunkt der Tätigkeit derjenigen, die noch in Russland geblieben sind, liege nun auf dem praktischen Schutz der Menschenrechte, etwa indem sie Flüchtlingen helfen oder Anwaltskosten für politische Häftlinge übernehmen.

Angespannte Situation in Moskau

Die aktuelle Situation in Moskau beschreibt die Historikerin Scherbakowa als „sehr, sehr angespannt“. Der überraschende Vormarsch der Wagner-Truppen in Richtung russischer Hauptstadt am vorvergangenen Wochenende habe Risse in Putins Regime aufgezeigt. Man habe gesehen, „welche Angst man da oben bekommen hat.“ Der falsche Mythos von Russlands Stärke sei offenbart worden. Die Reaktionen der Eliten seien zunächst Schweigen und dann das massenhafte Kaufen von Flugtickets ins Ausland gewesen, sagt Scherbakowa. Der normale Bürger habe sich die Tickets für 3.000 Euro sicher nicht leisten können.

Engagiert sich seit 30 Jahren für die Aufarbeitung der politischen Gewaltherrschaft: Irina Scherbakowa. | Foto: Stefan Heinze

Inzwischen trete Putin, den man lange Zeit nicht mehr gesehen habe, täglich öffentlich auf und lasse sich sogar von Menschen umringen, obwohl er doch geprägt durch die Corona-Pandemie die Nähe zu anderen Menschen lange Zeit gemieden hat. Auf die Frage eines Journalisten, ob die Regierung deshalb nun die Repressalien gegen die Zivilgesellschaft verstärke, antwortete die Memorial-Gründerin, diese würden ohnehin täglich verstärkt. Allerdings merkte sie lakonisch an: „Für Putin ist offenbar eine 1,58 Meter große Regisseurin, die ein regierungskritisches Theaterstück inszeniert, eine größere Gefahr als Kriminelle, die mit Panzern ausgestattet durch Russland marschieren.“

„Die Vergangenheit hinterlässt Spuren“

Wie kann es nun aber weitergehen? Und kann aus der Erinnerungsarbeit auch eine Friedensarbeit werden, wie sich das die Lilje-Stiftung wünscht? Scherbakowa antwortet auf diese Frage mit einem Bekenntnis. Insbesondere aus den ukrainischen Memorial-Organisationen sei die Frage gekommen, was die Gliederungen in Russland im Vorfeld für den Frieden getan hätten. Ein deutlicher Vorwurf des Versagens schwingt mit. Scherbakowa nennt es Kassandra-Arbeit: „Dass die Entwicklung in Russland in diese Richtung geht, haben wir sehr früh gesagt. Dass man gewarnt hat, erfüllt einen nun aber nicht mit Genugtuung, sondern mit Bitterkeit und Tragik.“



Für Scherbakowa ging es bei dem Treffen in der Akademie Loccum nun darum, die Vitalität ihrer Organisation zu beweisen. Außerdem sei es ihr als Historikerin besonders wichtig, deutlich zu machen, welche Bedeutung die Aufarbeitung der Geschichte habe – und wieso ihre Arbeit deshalb immer auch Friedensarbeit war und ist: „Die Vergangenheit hinterlässt Spuren. Wenn man die Aufarbeitung liegenlässt, wie Russland es tut, wenn man die Krankheit nicht bekämpft, sorgt das für neue Auswüchse der Krankheit.“

„Putin muss an die Wand gedrückt werden“

An die Deutschen richtet Scherbakowa einen deutlichen Appell: „Die einzige Möglichkeit für einen Friedensprozess ist es, alles Mögliche zu machen, um die Ukraine zu unterstützen. Ich bin absolut der Meinung, dass alles getan werden muss, um dieses Böse zu stoppen.“ Dass manche Stimmen im Westen nun davor warnten, was nach Putin kommen könnte, hält die Historikerin für falsch, vielleicht auch verlogen.

Denjenigen, die nun einen Frieden um jeden Preis predigten, unterstellt sie machtpolitische oder wirtschaftliche Interessen – und benennt dabei sowohl Ungarns Machthaber Viktor Orbán als auch den früheren deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD). „Putin muss an die Wand gedrückt werden“, sagt Scherbakowa. „Sonst hat Russland keine Chance, sich zu verändern.“