Erstmals seit ihrer formalen Auflösung durch das Putin-Regime im Vorfeld des Einmarschs der russischen Truppen in die Ukraine trifft sich die Führung der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ an diesem Wochenende wieder in Präsenz – und zwar in den Räumen der evangelischen Akademie Loccum im Kreis Nienburg/Weser. Organisiert und auch finanziert hat diese Zusammenkunft die Hanns-Lilje-Stiftung aus Hannover.

Deren Geschäftsführer, Prof. Christoph Dahling-Sander, erklärte am Freitag vor Journalisten, in der Stiftung habe man sich nach Kriegsausbruch im vergangenen Jahr gefragt, welchen Beitrag man in dieser Situation leisten könne, und sei zu dem Entschluss gekommen, zivilgesellschaftliche Organisationen in Russland unterstützen zu wollen. Daraufhin habe er Kontakt zu Irina Scherbakowa aufgenommen, einem Gründungsmitglied von Memorial, das nach Kriegsbeginn nach Deutschland geflüchtet war.

Irina Scherbakowa und Christoph Dahling-Sander im Gespräch mit Journalisten. | Foto: Kleinwächter

Scherbakowa wird am Freitagabend in der Marktkirche Hannover im Rahmen des Hanns-Lilje-Forums öffentlich sprechen. Andere Teilnehmer der Zusammenkunft in Loccum bleiben allerdings geheim – aus Gründen der Sicherheit. Nach der Tagung in der Akademie werden einige der rund 30 Gäste wieder nach Russland zurückreisen, wo sie sich noch immer engagieren, wie Scherbakowa berichtete.

Die aktuelle Situation in Moskau beschreibt die Historikerin Scherbakowa als „sehr, sehr angespannt“. Der überraschende Vormarsch der Wagner-Truppen in Richtung russischer Hauptstadt am vergangenen Wochenende habe Risse in Putins Regime aufgezeigt. Auf die Frage eines Journalisten, ob die Regierung deshalb nun die Repressalien gegen die Zivilgesellschaft verstärke, antwortete sie, diese würden ohnehin täglich verstärkt. Allerdings merkte sie sarkastisch an: „Für Putin ist offenbar eine 1,58 Meter große Regisseurin, die ein regierungskritisches Theaterstück inszeniert, eine größere Gefahr als Kriminelle, die mit Panzern ausgestattet durch Russland marschieren.“



Für Scherbakowa geht es bei dem Treffen in Loccum darum, die Vitalität ihrer Organisation zu beweisen. Außerdem sei es ihr als Historikerin besonders wichtig, deutlich zu machen, welche Bedeutung die Aufarbeitung der Geschichte hat. „Die Vergangenheit hinterlässt Spuren. Wenn man es aber wie Russland liegenlässt, die Krankheit nicht bekämpft, sorgt das für neue Auswüchse der Krankheit.“ An die Bundesrepublik richtet sie zudem einen deutlichen Appell: „Die einzige Möglichkeit für einen Friedensprozess ist es, alles Mögliche zu machen, um die Ukraine zu unterstützen.“


Irina Scherbakowa spricht am Freitag, 30. Juni 2023 im Hanns-Lilje-Forum in der Marktkirche Hannover. Beginn ist um 19 Uhr. Einen ausführlichen Bericht über die Arbeit von Memorial und die Diskussionen im Hanns-Lilje-Forum lesen Sie in der Montag-Ausgabe des Politikjournals Rundblick. Hier geht’s zum Abo.