Im Streit um den Ausbau der Bahnstrecke zwischen Hamburg und Hannover zeichnet sich weiterhin keine Einigung ab. Während offenbar die Mehrzahl der betroffenen Kommunen sowie Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies (SPD) eine „Generalsanierung XXL“ der Bestandstrecke fordern, halten Stadt und Landkreis Lüneburg an einer zweigleisigen Neubaustrecke fest. „Die Diskussion alleine auf die Ausprägung einer Generalsanierung der maroden Infrastruktur zu verlagern, macht keinen Sinn“, kritisierte Lüneburgs Oberbürgermeisterin Claudia Kalisch (Grüne) beim jüngsten Statustreffen des Projektbeirats Alpha-E – allerdings nur im inoffiziellen Teil der Veranstaltung.

Auf dem Podium kamen am vergangenen Freitag in Celle keine Gegner der Generalsanierung zu Wort. Die fünfköpfige Delegation aus der Hansestadt durfte während der öffentlichen Debatte nur ein paar Verständnisfragen stellen, was sowohl Kalisch als auch Lüneburgs Erste Kreisrätin Yvonne Hobro sichtlich verärgerte. „Ein Austausch auf Augenhöhe sieht anders aus“, kommentierten die beiden. Ein offener Dialog sei offenbar nicht erwünscht.
Tatsächlich war das Statustreffen in Celle vor allem ein Treffen der Neubautrassengegner, die vom Wirtschaftsminister allerdings nicht auf diese Position reduziert wurden. Lies lobte die Befürworter der Generalsanierung vielmehr als „Ermöglicher“. „Hier sitzen nicht Leute, die gegen etwas sind, sondern, die für etwas sind“, stellte der SPD-Politiker klar. Nach jahrzehntelangem Widerstand habe erst der Projektbeirat (damals noch als Dialogforum Schiene-Nord) überhaupt den Weg für einen Schienenausbau zwischen Hannover und Hamburg/Bremen frei gemacht. „Es gab eine breite Mehrheit, die sagte, wir brauchen einen Ausbau der Strecke“, erinnerte Lies.

Seit dem Abschluss der Bürgerbeteiligung im November 2015 sei allerdings nichts von dem Kompromiss umgesetzt worden, wofür der Minister letztlich auch eine „Verhinderungspolitik“ verantwortlich machte. Mit dem auf 2029 verschobenen Start der „Generalsanierung XXL“ ist Lies zwar nicht zufrieden, er betonte aber auch: „Man muss sich auf das Machbare und Sinnvolle beschränken.“ Der Deutschen Bahn (DB) gegenüber machte er zwar keine Vorwürfe. Allerdings forderte der Verkehrsminister diesmal eine schriftliche Vereinbarung zum Schienenausbau. „Wir können uns nicht mehr auf Worte verlassen“, sagte Lies und drängte auf eine Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. „Wenn wir uns ständig Dinge vornehmen, die wir nicht umsetzen, verzweifeln die Menschen an uns.“

Eine Neubaustrecke ist für Lies derzeit überhaupt kein Thema. So liegt dem Bund zwar offenbar eine ausführliche DB-Untersuchung der vier möglichen Aus- und Neubauvarianten für die Bahnstrecke vor. Als Oberbürgermeisterin Kalisch eine Offenlegung dieser Untersuchung forderte, sagte der Wirtschaftsminister jedoch ganz klar: „Ich will keinen Variantenvergleich. Mein Ansatz ist die Umsetzung des Alphas.“ Laut der früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Kirsten Lühmann, die das Statustreffen moderierte, ist offenbar der Bund für die Geheimniskrämerei verantwortlich. „Zum jetzigen Zeitpunkt kann und darf die Bahn den Variantenvergleich nicht offenlegen“, erklärte Lühmann.
Aus Lüneburger Sicht ist das absolut inakzeptabel. „Es ist Zeit, die Fakten auf den Tisch zu legen“, forderte Kreisrat Rainer Müller und sagte: „Pendler aus unserem Landkreis leiden schon jetzt jeden Tag unter der Situation, weil die Strecke massiv überlastet ist. Das kann so nicht weitergehen – wir brauchen dringend Bewegung bei dem Thema. Ein Neubau muss als Option im Spiel bleiben.“

Bahn will sanieren statt ausbauen
Die Vertreter der Deutschen Bahn erweckten beim Statustreffen zunächst den Eindruck, als sei auch für das Unternehmen eine Neubaustrecke erst einmal vom Tisch. „Was nützt uns Neu- und Ausbau, wenn die Substanz nicht funktioniert“, sagte Bahn-Managerin Ute Plambeck. Die seit dem 1. November neu amtierende Konzernbevollmächtigte für Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sprach von einem Umdenken bei der Bahn, die wieder die Bestandssanierung zur Toppriorität machen will.

„Wir sehen, es geht nicht weiter so wie bisher. Wir müssen bei der Infrastruktur andere Wege beschreiten“, sagte Plambeck. Zuvor hatte schon Lies kritisiert: „Wir haben unsere Infrastruktur in Deutschland wirklich auf Verschleiß gefahren.“ Der Verkehrsminister sprach sich ebenfalls für mehr Bestandspflege statt Neubauten aus. „Auch Bestandsinvestitionen können dazu beitragen, die Kapazität auf der Schiene zu erweitern“, bekräftigte Lies.
Ob die Generalsanierung zum Ende des Jahrzehnts tatsächlich starten wird, ist indes auch aufgrund der Haushaltsprobleme im Bund unklar. „Die Finanzierung muss sehr schnell kommen, damit wir überhaupt in die Lage versetzt werden, für 2029 konkrete Maßnahmen zu planen“, sagte Lars Lücking, der bei der Bahn für Generalsanierungen im Raum Hamburg/Minden/Hannover verantwortlich ist. Um die Totalsperrung der Strecke tatsächlich auf fünf Monate zu begrenzen, sei die entsprechende Vorbereitung extrem wichtig. „Die Grundsanierung ist im Grunde wie ein Formel-1-Boxenstopp. Es muss alles gleichzeitig gebaut werden“, erläuterte Lücking.

Insgesamt 64 Maßnahmen von Bahnsteig- und Gleisverlängerungen über Elektrifizierung und Lärmschutz bis hin zum Bau von zusätzlichen Überholgleisen sind vorgesehen. Die Kapazitätssteigerung, die dadurch erreicht wird, wird sich laut Lücking jedoch in Grenzen halten. Für den Abschnitt Lüneburg-Uelzen werde sich die Verkehrsmenge zwischen 6 und 22 Uhr nur von 185 auf etwa 200 Züge erhöhen (plus 8,1 Prozent). Laut der Verkehrsprognose des Bundes für 2030, die 2016 veröffentlicht wurde, liege der Transportbedarf jedoch bei 385 Zügen. Fazit der Bahn: „Nur mit zwei zusätzlichen Gleisen können die langfristig prognostizierten Verkehrsbedarfe erfüllt werden.“
„Die Hochrechnung basiert auf längst überholten Zahlen“, hielt Peter Dörsam dagegen. Der Sprecher des Projektbeirats und Samtgemeindebürgermeister von Tostedt (Landkreis Harburg) hält einen Bedarfsanstieg von über 100 Prozent angesichts der bisherigen Entwicklung für völlig unrealistisch. Der Grünen-Politiker verwies auf eine neuere Prognose des Bundesverkehrsministeriums, wonach der Massengütertransport auf der Schiene angesichts des Wegfalls fossiler Brennstoffe bis 2051 gerade mal um 14 Prozent steigen wird. Auch andere Statistiken, wie etwa die Darstellung zum seit Jahren stagnierenden Containerumschlag im Hamburger Hafen, würden die Verkehrsprognose für 2030 widerlegen.

Beim Personenverkehr verhalte es sich ähnlich. Auf einer neuen Gleisstrecke zwischen Hannover, Hamburg und Bremen würden zwar 12 Millionen Fahrten neu entstehen. Gleichzeitig werde aber der Personenverkehr auf den Bestandsstrecken um 10,7 Millionen reduziert. „Das ist viel Aufwand nur für 11 Prozent mehr Fernverkehr“, kommentierte Dörsam das milliardenschwere Neubauprojekt.
Er widersprach auch der Aussage, dass es durch eine Generalsanierung nur zu einer Kapazitätserhöhung im einstelligen Prozentbereich kommen werde. „Alpha-E schafft gegenüber dem Bedarf, den wir heute auf der Strecke haben, noch eine deutliche Reserve“, betonte Dörsam. Die neue Verkehrsprognose für 2040 könnte hier Klarheit schaffen. Wie Lühmann direkt aus dem Bundesverkehrsministerium erfahren haben will, wird das Gutachten jedoch erst Mitte/Ende 2024 veröffentlicht.
Scharfe Kritik an der Bahn
Gegenüber der Deutschen Bahn erhob Dörsam den Vorwurf, bisher am eigentlichen Auftrag vorbei geplant zu haben. Sowohl der komplett viergleisige Bestandsausbau von Ashausen (Kreis Harburg) bis Celle sowie die untersuchten Neubauvarianten hätten weder etwas mit Alpha-E noch mit der Beschreibung im Bundesverkehrswegeplan zu tun. Von einer „Generalsanierung XXL“ könne bislang ebenfalls keine Rede sein. „Die 64-er Liste kann nur der Anfang sein“, sagte der Beiratssprecher. Er kritisierte auch, dass im bisherigen Gutachten weder die Auswirkungen der Digitalisierung noch die Kapazitätsgewinne durch ein drittes Gleis zwischen Uelzen und Lüneburg ausreichend berücksichtigt wurden.

„Da eine Neubaustrecke für Jahrzehnte nicht kommen wird, ist eine Generalsanierung die einzige Chance, zu so vielen Verbesserungen wie möglich zu gelangen“, betonte Dörsam. Das strenge Festhalten an dem von der Bahn vorgeschlagenen Deutschlandtakt bezeichnete der Kommunalpolitiker wie bereits zuvor der Verkehrsminister als Fehler. „Die Frage, ob auch noch ein vierter ICE pro Stunde zwischen Hamburg und Hannover verkehrt, und ob dieser zehn Minuten schneller ist, ist nachrangig“, sagte Dörsam: „Für die Menschen ist entscheidend, dass die Bahn möglichst schnell wieder verlässlich wird und die Kapazitäten ausreichen.“
