Von Martin Brüning

„Ich bin gerne dumm“ steht auf Karten in gepflegtem Altrosa, die auf den Tischen des Auditoriums im Schlosses Herrenhausen in Hannover ausliegen. Ein ungewöhnlicher Empfang der knapp 400 Gäste des Arbeitgeberforums, ausgerichtet vom Verband Niedersachsenmetall. Die Karten kommen vom Psychologen Leon Windscheid aus Münster, der nicht nur als Hauptgewinner der Sendung „Wer wird Millionär“ bekannt wurde, sondern auch mit dem Live-Programm „Altes Hirn, neue Welt“ durch Deutschland tourt, am Sonnabend ist er in Oldenburg.

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Mit den Karten wolle er absichtlich provozieren, erzählt Windscheid im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick. Es gehe darum, das eigene Gehirn zu begreifen. „In Schulen und im Job sollen alle effizient funktionieren. Klappt das nicht, begreifen wir das als Dummheit.“ Dabei komme es in Zukunft doch gerade auf Emotionen und impulsives Verhalten an, schließlich seien das typische Stärken der Menschheit. „Unsere Gehirne haben inzwischen eine Welt erschaffen, für die sie nicht gemacht sind“, sagt Windscheid und meint damit die künstliche Intelligenz. „Wir stehen am Beginn eines Wettkampfes zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Und diesen Krieg können wir nicht gewinnen, wenn es um Rationalität oder Effizienz geht.“

Leon Windscheid beim Arbeitgeberforum – Foto: Niedersachsenmetall

Aber wie dumm sind wir eigentlich? Das lässt Windscheid das Publikum selbst herausfinden. Wer die „Ich bin gerne dumm“-Karte aufklappt, findet unter anderem eine „Linie der Intelligenz“. Die Zuschauer sollen selbst eintragen, wo sie sich auf dieser Linie sehen. Links neben dem Mittelstrich sortiert man sich in der Kategorie „Die 50 Prozent Dummen“, rechts bei den „50 Prozent Schlauen“ ein. Nur etwa fünf Prozent der Gäste setzen das Kreuz rechts von der Mitte. „Dann sind Sie vermutlich Teil des Problems“, stichelt Windscheid.

Wir stehen am Beginn eines Wettkampfes zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Und diesen Krieg können wir nicht gewinnen, wenn es um Rationalität oder Effizienz geht.

Anschließend stellt er dem Publikum Wissensfragen. Wie schnell ist die Internationale Raumstation ISS unterwegs? Wie viele Coffee-to-go-Becher werden jeden Morgen weggeworfen? Das Publikum kann auf der Karte einen Von-bis-Korridor eintragen. Nur elf Gäste antworten richtig, aber die Wenigen freuen sich über ihre einigermaßen korrekten Antworten. „Warum schreiben wir nicht einfach einen Korridor von ein bis sieben Billionen auf das Blatt? Nein, wir wählen einen arrogant kleinen Raum, weil wir schlau sind“, sagt der Psychologe. Oder weil wir schlau zu sein glauben, kann man an dieser Stelle im Kopf noch hinzufügen. Dieses System habe 300.000 Jahre lang gut funktioniert, schließlich waren wir alleine an der Spitze. „Damit ist jetzt brachial Schluss. Wir leben am Anfang einer Ära, in der Maschinen immer intelligenter werden.“

Aber wie passen wir uns dem System, das wir selbst gerade dabei sind zu ändern, am besten an? Können wir das überhaupt? Andere können es. Windscheid nimmt ein Urvolk in Kenia als Beispiel, das mehrere Begriffe für unterschiedliche Formen der Intelligenz nutzt. „Rico“ steht dabei für die effiziente, rationale Intelligenz. Die Worte „Luro“, „Dingo“ und „Paro“ stehen für Qualitäten wie Respekt haben, die Bereitschaft zu teilen und sich für andere einzusetzen. „Kinder, die für das Jahr 2030 fit sein wollen, müssen diese Dimensionen von Intelligenz beherrschen. Denn sie können Maschinen niemals nachmachen, das können nur Menschen.“

Aus Panik vor der künstlichen Intelligenz würden derzeit falsche Entscheidungen getroffen. „Wir versuchen den Kindern jetzt schon in der Vorschule Englisch oder besser noch Mandarin beizubringen, Studenten nehmen Ritalin, um sich auf Prüfungen vorzubereiten, Manager nehmen noch härtere Drogen. In dieser Effizienzwelt geht es immer um Optimierung. Das kann aber nicht funktionieren.“ Man müsse den Fokus der Intelligenz verschieben.

Volker Schmidt bei der Veranstaltung im Schloss Herrenhausen – Foto: Niedersachsenmetall

Es gab Länder und Zeiten, da wurden Emotionen durchweg negativ bewertet. Niedersachsenmetall-Hauptgeschäftsführer Volker Schmidt erinnerte sich auf dem Arbeitgeberforum an seine Zeit in der Politik. Damals sei er mit Wolfgang Schäuble nach Russland gereist. Dort unterhielt sich Schäuble mit General Alexander Lebed über das Schachspiel. Was haben Politik und Schachspiel gemeinsam, lautete die Frage? Unglaublich viel, antwortete Lebed. Das Problem sei nur, dass man in der Politik mit Menschen zu tun habe, und das noch größere Problem: Menschen hätten Gefühle. „Das haben Schachfiguren mit Computern gemeinsam: Beide haben keine Gefühle“, sagte Schmidt.

Hannover darf keine behäbig dahingluckende Provinzstadt sein. ‚Hauptsache gemütlich‘ – da kann es nicht sein.

Und weil Schmidt aus seinen Emotionen für die Politik keinen Hehl macht, nutzte er die Veranstaltung im Schloss Herrenhausen noch für ein klares Wort in Richtung der Landeshauptstadt, die er derzeit in keiner guten Verfassung sieht. Hannover habe während der zwei Jahre andauernden Affäre des Oberbürgermeisters Stefan Schostok an Handlungsfähigkeit verloren. Der Rücktritt sei überfällig gewesen. „Es ist auch unbegreiflich, dass man seitens der Landesregierung zwei Jahre lang abgewartet hat. Bei aller parteipolitischen Solidarität: Das hat die Stadt nicht verdient“, sagte Schmidt.

Er legte den Finger in die Wunden der vergangenen Jahre: Diesel-Streit, Kulturhauptstadt-Posse, Cebit-Verlust: „Hannover darf keine behäbig dahingluckende Provinzstadt sein. ‚Hauptsache gemütlich‘ – da kann es nicht sein.“ Es fehle in der Landeshauptstadt jegliches Verständnis für das Wettbewerbsprinzip, andere Städte hätten gut lachen. In Anlehnung an den Windscheid-Vortrag im Schloss Herrenhausen wird man sich, wenn es um die Stadt Hannover geht, in Städten wie Düsseldorf oder Kiel vermutlich denken: schön dumm.