Kommunalverfassung: Vorteil für die Kleinen
Als die Landesregierung vor wenigen Wochen ihr Konzept für eine veränderte Kommunalverfassung vorlegte, war man im Landtag wohl auf viele heiße Debatten gefasst. Der Kernpunkt der Reform betrifft veränderte Regeln für Bürgerentscheide. Wenn es um Standorte für neue Kliniken geht, so der Plan der Regierung, soll das über ein Plebiszit nicht mehr blockiert werden können. Und auch die Vergütungsregeln für die ehrenamtlichen Mandatsträger sollen angepasst werden.
Aber diese teilweise durchaus gravierenden Änderungen lösten in der Parlamentsdebatte kaum Widerspruch aus. Vielmehr war es ein anderes Detail, an dem sich vor allem die FDP rieb: Indem das Auszählverfahren für kommunale Mandate von dem bisherigen System nach Hare-Niemeyer auf das System d’Hondt umgestellt werden soll, wollten SPD und CDU ihre „Pfründe sichern“, schimpfte der FDP-Innenpolitiker Marco Genthe. Vorher schon hatte Parteichef Stefan Birkner unmissverständlich erklärt: „Dieser Plan wird auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen.“
Der Tonfall überrascht in seiner harten Form schon. Denn dass ein eher technischer Schritt wie die Verteilung der Mandate auf die kommunalen Ausschüsse derart großen Ärger verursacht, ist selbst für viele kommunalpolitisch Interessierte kaum nachvollziehbar. Verständlich ist das nur vor dem Hintergrund, dass die Änderung von Auszählverfahren zwischen Hare-Niemeyer und d’Hondt alle Jahre mal wieder auf der politischen Tagesordnung steht, und eine heftige Reaktion darauf kommt regelmäßig von den Freien Demokraten.
In früheren Jahren hat es Experten der Partei gegeben, für die der Streit über die beiden Auszählverfahren fast schon Formen eines Glaubenskrieges angenommen hatte. Einige verstiegen sich zu der Behauptung, allein Hare-Niemeyer bilde die Mehrheitsverhältnisse richtig ab – und d’Hondt sei schon vom Programm her eine Verfälschung zugunsten der größeren Gruppierungen. Zu denen gehört mittlerweile, anders als in früheren Jahrzehnten, auch die Partei der Grünen. Im Landtag hat ihre Innenpolitikerin gleichwohl erklärt, weiterhin die Haltung der FDP zu teilen.
Kaum nachvollziehbare mathematische Verfahren
Nun kann man aber an der Berechtigung der FDP-Einwände begründete Zweifel haben. Nachvollziehbar sind diese für die wenigsten, denn es geht um komplizierte mathematische Berechnungsverfahren, nach denen die Ausschusssitze vergeben werden, um Multiplikationen und Divisionen, um die Reihenfolge der Zähler und die Zuordnung. Der frühere Uelzener Landrat Theodor Elster hat vor Jahren ein Büchlein über die Berechnungen verfasst und die Wirkungen der verschiedenen Methoden verglichen. Er kommt, wie alle anderen, zu einem Resultat: Wenn man nach d’Hondt vorgeht, stärkt das tendenziell die Gruppierungen, die bei den Wahlen einen höheren Stimmenanteil erhalten haben. Bei Hare-Niemeyer ist es umgekehrt, dort kommen kleinere Parteien besser weg. Unter anderem liegt das auch an Auf- und Abrundungen, die im einen System vorausgesetzt, im anderen strikt vermieden werden.
Um es noch komplizierter zu machen: Es gibt noch ein drittes System, Saint-Lague, das eher dem von Hare-Niemeyer ähnelt und auch so wirkt. Elster hielt zum Schluss seiner Ausarbeitung das System nach d’Hondt für „vorzugswürdig“ und nannte das – derzeit in Niedersachsen gültige – System nach Hare-Niemeyer sogar „verfassungswidrig“.
Jede Stimme muss gleich viel zählen – aber tun sie das?
Derzeit schlägt die Große Koalition vor, bei dem wesentlichen Schritt, der Berechnung der Mandate nach der Kommunalwahl, an dem von Elster so gescholtenen Modell Hare-Niemeyer festzuhalten. Nur beim nächsten Schritt, der Berechnung der Mandate für jede Fraktion für die Ausschüsse in der Kommunalvertretung, solle d’Hondt angewandt werden – also für den kleineren Schritt. War also Elsters Argumentation am Ende nicht überzeugend?
Der Vorwurf der „Verfassungswidrigkeit“ folgt aus dem Grundprinzip, dass jede Stimme, die ein Wähler abgibt, für die Verteilung der Gewichte der Parteien im Parlament später ein ähnliches Gewicht haben muss. Wer also SPD wählt, muss damit genauso viel Wirkung erzeugen können wie jemand, der CDU, Wählergemeinschaft oder eine kleine Splitterpartei wählt. Elster meinte nun, bei Anwendung von Hare-Niemeyer sei eine Stimme für eine kleine Partei viel erfolgversprechender als eine Stimme für eine Partei, die nach der Wahl zu einer größeren Fraktion gehört – deshalb sei das System verfassungswidrig.
Berechnung zeigt: 2016 war die Abweichung zu groß
Aus internen Berechnungen über die Situation nach der Kommunalwahl 2016, die dem Politikjournal Rundblick vorliegen, bekommt die Elster-Argumentation Nahrung: In Delmenhorst hätten die Freien Wähler nur 931 Stimmen für einen Sitz im Rat benötigt, die CDU hätte für jeden ihrer zehn Sitze 1870 Stimmen gebraucht. In Oldenburg hätten die Piraten mit 2450 Stimmen ein Mandat errungen, die SPD hätte für jedes von ihren aber 4258 Stimmen mobilisieren müssen. In Hameln hatte die UFB mit 802 Stimmen ein Ratsmandat erkämpft, die AfD bekam zwei Sitze – und für jeden seien 1888,5 Stimmen erforderlich gewesen. Die maximale zulässige Abweichung vom Mittelwert einer Stimme, die bei einem Drittel liegt, sei in den genannten Beispielen überschritten worden. Damit sei die Verfassungswidrigkeit belegt.
Gerade die kleinsten Gruppierungen in mehreren Kommunen, die etwa 1,2 bis 1,5 Prozent errungen haben, werden in den Räten oft mit einem Sitz repräsentiert – und haben damit dann oft einen Anteil an den Kommunalvertretern, der 2 Prozent übersteigt. Beobachter haben schon vor Jahren die Sorge vertreten, dass diese Umstände zu einem ungewollten Verhalten der Kandidaten führen kann: Wer sich in einer größeren Gruppierung als Bewerber nicht durchsetzen kann, könnte versucht sein, es als Einzelbewerber zu versuchen – denn diese sind nach den derzeit in Niedersachsen geltenden Auszähl-Regeln klar im Vorteil. Ob das noch gerecht ist? Die Koalition hat einen Weg in Richtung Änderung beschritten – doch sie bleibt, da der Plan nur die Ausschussbesetzung anbelangt, auf halbem Wege stehen. (kw)