Jägermeister geht neue Wege: Warum „Rumsteher-Drinks“ die Zukunft sein sollen
Das Geheimrezept für Jägermeister kennen gerade mal eine Handvoll Leute. Die 56 Kräuter, Blüten, Wurzeln und Früchte, die in Wolfenbüttel zur achterfolgreichsten Spirituose der Welt gemischt werden, hält das Familienunternehmen seit 90 Jahren streng geheim. Mit seinem wirtschaftlichen Erfolgsrezept hält die Firma dagegen nicht hinterm Berg. In Braunschweig plauderte Jägermeister-CEO Michael Volke am Dienstag bei einer Veranstaltung von Industrieklub und IHK ganz offen darüber, wie ein Kräuterlikör-Startup aus dem Vorharz zu einer internationalen „Ikone des Nachtlebens“ werden konnte. „Die Geschichte ist eigentlich komplett unlogisch“, räumte Volke ein. „Das ist kein Whisky, das ist kein Wodka, das ist kein gar nix – und hat es trotzdem geschafft, in der Welt Erfolg zu haben. Dazu braucht es eine Menge Magie.“

Wie ein Zauberer wirkt der Vorstandsvorsitzende, der 2008 von Bacardi zu Mast-Jägermeister wechselte und seit 2016 den Unternehmenskurs vorgibt, an diesem Abend eigentlich nicht. Sportlich schick präsentiert sich der CEO des Beinahe-Milliarden-Unternehmens in einem dunkelgrauen Anzug mit Poloshirt und weißen Turnschuhen. Man könnte Volke, dem man eine gewisse Ähnlichkeit zu Batman-Darsteller Michael Keaton nicht absprechen kann, beinahe für einen Big-Tech-Boss halten – wenn er nicht am Podium neben einem großen schwarzen Hirsch referieren würde. Und das macht er sehr unterhaltsam. „Ein unerschütterlicher Weiterentwicklungswille und der Mut, neue Wege zu gehen, abseits des Mainstreams – das zeichnet uns aus. Denn mit einem Kräuterlikör allein kommt man ansonsten nicht so weit“, verrät Volke der Braunschweiger Unternehmerriege.
Schon Jägermeister-Erfinder Curt Mast habe als Startup-Gründer alles richtig gemacht. „Er war selbst passionierter Jäger und Teil seiner Zielgruppe. Er wollte einen Schnaps, den man nach der Jagd trinken kann.“ Diese hundertprozentige Kundennähe, die man heute als „Subculture Marketing“ bezeichnen würde, prägt den Konzern noch immer. „Wir sind näher dran an unseren Konsumenten als jeder unserer Wettbewerber“, beschreibt Volke die – nach wie vor – größte Stärke des Unternehmens. Anders als andere Firmen bemüht sich Jägermeister nicht um Kunden, sondern um Fans. Ursprünglich waren das mal die Jäger. Ab den 1950er Jahren eroberte Günter Mast, der Neffe des Unternehmensgründers, mit spektakulären Marketingaktionen dann auch die Welt des Sports. „Wir müssen mit unserer Werbung künftig mehr Staub aufwirbeln“, lautete sein Motto. Unvergessen bleibt sein Marketing-Gag, als er zur Rückrunde der Saison 1972/73 die Fußballprofis von Eintracht Braunschweig mit dem Jägermeister-Hirsch auf der Brust auflaufen ließ, womit er die Trikotwerbung in Deutschland einführte. Auch seine Werbekampagne „Ich trinke Jägermeister, weil …“ war ein Hit. „Günter Mast wollte polarisieren, er wollte die Schlagzeile – und das hat er geschafft“, lobt Volke und würdigt seinen Vorgänger als „Ikone der deutschen Markenindustrie“.

Ähnlich erfolgreich agierte Sidney Frank, der Jägermeister in den 1970er-Jahren in die USA brachte. Als der Spirituosenhändler aus New York zum ersten Mal am Kräuterlikör schnupperte, soll seine Reaktion gewesen sein: „Smells like money.“ („Das riecht nach Geld.“) Tatsache ist, dass Frank den deutschen Schnaps zum Szene-Getränk von College-Studenten machte und ihm ein ganz neues Image verpasste. „Er hat die Marke in den USA komplett neu erfunden“, sagt Volke. Statt auf Sportsponsoring setzte das Unternehmen daraufhin auf die Musik- und Festivalszene sowie auf die Nachtschwärmer als Zielgruppen. Außerdem gehören seitdem die Vereinigten Staaten zu den wichtigsten Absatzmärkten für Jägermeister. Elf Prozent des Umsatzes macht das Unternehmen mit seinem Kräuterlikör in den USA, es ist der größte Einzelmarkt nach Deutschland (15 Prozent).
Die 2019 unter US-Präsident Donald Trump eingeführten Strafzölle von 25 Prozent auf deutschen Likör waren für Jägermeister entsprechend schmerzhaft. Mit der Corona-Pandemie, die das weltweite Barleben lahmlegte, folgte kurz darauf der nächste Rückschlag. „Ich habe gedacht: Schlimmer als Covid kann’s nicht mehr kommen. Da habe ich mich getäuscht“, stellt der Jägermeister-CEO in Braunschweig fest und zeigt eine Weltkarte, auf der die 155 Länder zu sehen sind, in denen Jägermeister erhältlich ist. Wo sich ehemals der drittgrößte Absatzmarkt befand, ist nur noch ein großer weißer Fleck. Der Rückzug aus Russland sei ein harter Schlag ins Kontor gewesen. „Das hat schon richtig wehgetan, aber wir haben es aus Überzeugung gemacht“, sagt Volke. Die geopolitischen Konflikte sind seitdem nicht weniger geworden, der Weltmarkt nicht gerade freier. Im jüngsten Handelskrieg mit der EU hat Trump mit Strafzöllen in Höhe von 200 Prozent auf alkoholische Produkte gedroht. Volke nimmt es mit Haltung. „Sie haben sicher kein Interesse, das Jammern eines CEO zu hören“, sagt er dem Publikum in der Löwenstadt. Stattdessen gibt er folgenden Tipp: „Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie etwas nicht beeinflussen können, müssen Sie dafür sorgen, dass die Unterhaltung stoppt. Reden Sie nicht mehr über Themen, die Sie loswerden möchten.“
Stattdessen spricht Volke lieber über neue Projekte. „Wir kaufen gerade Mandarinen ein, als ob’s kein Morgen gibt“, berichtet er. Hintergrund ist der Verkaufsstart von „Jägermeister Orange“, der ab April in den Handel kommen soll. „Es ist ein Stück weit weiblicher, und man kann es gut mixen“, beschreibt er das neue „Goldnugget“ im Programm. Mit den Sorten „Manifest“, „Scharf“ und „Cold Brew Coffee“ hat sich das Unternehmen zwar schon seit Längerem von der ursprünglichen „Ein Produkt für alle“-Strategie verabschiedet. Mit „Jägermeister Orange“ wenden sich die Wolfenbütteler jedoch erstmals mit ihrer Kernmarke von den Shots ab und wollen den Markt für „Rumsteher-Drinks“ erobern.

Warum der Sinneswandel? Seit 2019 habe die Gastronomie weltweit einen Umsatzrückgang um 18 Prozent erlebt, berichtet Volke. Während der Konsum in Bars zurückgeht, steigt die Geselligkeit im Privaten an. „Die Leute gehen nicht mehr aus, sie ziehen sich zurück in die eigenen vier Wände“, beschreibt der CEO. Die allgemeine Entwicklung vergleicht er mit der Biedermeierzeit vor zweihundert Jahren, als die Menschen in Europa sich als Reaktion auf politische Bevormundung ins Häusliche zurückzogen. „Die Generation Z feiert bewusster, seltener und intensiver. Events sind alle ausgebucht, die Bars sind alle leer“, sagt Volke. Vom Bar- und Clubbesuch geht der Trend zum „Dining and Wining“ zu Hause. Für ein Unternehmen, das sein Geld überwiegend mit Kräuterlikör verdient, seien das nicht die besten Voraussetzungen. Außerdem bremsen allgemeine Preissteigerungen auch den Verkauf von Kräuterlikör im Supermarkt. „Das Geld ist alle, bevor die Konsumenten das Wein- und Spirituosen-Regal erreichen“, so Volke. Seiner Marktanalyse nach wird die Branche zwar das aktuelle „Tal der Tränen“ wieder verlassen. Von Wachstumsraten von fünf Prozent müsse man sich aber bis auf Weiteres verabschieden, auch wenn der Mittelstand global wächst. „Der Verdrängungswettbewerb geht los. Ein Wachstum von zwei Prozent reicht keinem“, sagt der Jägermeister-CEO und zeigt sich zuversichtlich: „Premium-Spirituosen sind resistent und werden auch durch diese Krise kommen.“

Der Jägermeister-CEO ist auch deswegen optimistisch, weil er sein Unternehmen für den nächsten großen Spirituosentrend gut aufgestellt sieht. „Tequila ist gerade das große Ding in Amerika“, sagt er. 2019 hatten die Wolfenbütteler zusammen mit einem Hollywood-Star den Premium-Tequila „Teremana“ auf den Markt gebracht. Keine andere Spirituosenmarke startete in den USA erfolgreicher, bis Ende des Jahres soll Teremana in 50 Ländern erhältlich sein. Ausgerechnet Deutschland ist aber noch nicht darunter, wofür Volke einen gewissen „Tequila mit Hut“ mitverantwortlich macht. „Der hat nicht wirklich dabei geholfen, dass man über Tequila eine Qualitätsgeschichte erzählen kann.“
Neben der Qualität setzt Jägermeister auch verstärkt auf den bewussten Alkoholkonsum. „Es geht nicht darum, einem Konsumenten zehn Shots zu verkaufen. Unser Ziel ist es, zehn Konsumenten zu finden, denen wir einen Shot verkaufen können“, sagt Volke und betont: „Die Zeiten, als es darum ging, unverantwortliches Trinken zu fördern, sind vorbei.“ Alkoholfreie Drinks kann sich der Jägermeister-CEO als Erweiterung des Portfolios durchaus vorstellen. „Das macht aber nur Sinn, wenn man das glaubwürdig tut“, sagt Volke. Dass ein Kräuterlikör mit null Promille von Feiernden in Bars konsumiert wird, glaubt er eher nicht. Bei einem alkoholfreien Gin unterm Dach der Marke „Gin Sul“, die seit Sommer 2018 als neue Innovationsschmiede zur Unternehmensgruppe gehört, sähe das aber anders aus. „Einen Rumsteher-Drink kann man auch mit alkoholfreien Produkten genießen.“
Dieser Artikel erschien am 20.03.2025 in der Ausgabe #054.
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