Pro & Contra: Sollten Großveranstaltungen abgesagt werden?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat empfohlen, wegen des Corona-Virus alle Veranstaltungen abzusagen, in denen mehr als 1000 Menschen erwartet werden. Betreibt der Bundesminister hier Panikmache? Oder empfiehlt er einen richtigen Schritt, damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt werden kann? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.
Pro: Das Corona-Virus darf man nicht unterschätzen. Aber wir haben vieles auch noch selbst in der Hand. Die Rufe nach harten Maßnahmen überdecken, dass jeder selbst Verantwortung trägt und auch frei entscheiden kann, zur Sicherheit Veranstaltungen nicht zu besuchen, meint Martin Brüning.
Deutschland dreht durch. Während in Kliniken Schutzmasken fehlen, horten Menschen diese bei sich zuhause, obwohl inzwischen jeder mitbekommen haben dürfte, dass die Masken gesunden Menschen im Alltag so gut wie nichts bringen. In der Drogerie steht man vor leeren Regalen, in denen vor ein paar Wochen noch Desinfektionsmittel zu kaufen waren, obwohl richtiges Händewaschen schon die halbe Hygiene-Miete ist. Und wer braucht eigentlich so viel Toilettenpapier? Wer wissen wollte, wie aufgeheizt die Stimmung wirklich ist, musste sich vor einigen Tagen nur die Mails von Eltern ansehen, deren Kinder auf die Elsa-Brändström-Schule in Hannover gehen. Dort gab es große Aufregung um Kinder, die von einer Ski-Freizeit aus Südtirol zurückkehrten. Eltern von Daheimgebliebenen schrieben von „Verseuchten im Todesbus“ und forderte sofortige Quarantänemaßnahmen. Wie gesagt: Deutschland dreht durch und ein Teil lässt dabei jegliche guten Sitten vermissen.
Niemand muss deswegen Toilettenpapier horten oder jugendliche Teilnehmer von Skireisen unflätig beschimpfen.
Das Corona-Virus darf man nicht unterschätzen. Es kann für Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen gefährlich werden. Ob die Sterberate wirklich höher ist als bei der Grippe, ließe sich nur genau sagen, wenn wirklich möglichst alle Fälle ausnahmslos erfasst würden und man die Zahlen sauber miteinander vergleichen könnte. Insofern könnte die Sterberate höher sein, muss sie aber auch nicht unbedingt. Nur zum Vergleich: In Deutschland sind aktuell rund 1100 Menschen am Corona-Virus erkrankt, die Grippe hatten 2020 bisher rund 100.000 Menschen, etwa 200 sind an ihr gestorben. Das geht in diesen Tagen der Corona-Virus-Panik gerne einmal unter. Dennoch hat der Präsident der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, nicht recht, wenn er davon spricht, dass man derzeit eher eine mediale als eine medizinische Infektion erlebe. Die Medien berichten pflichtgemäß. Was jeder dann allerdings mit diesen Informationen anstellt, ist seine Sache. Niemand muss deswegen Toilettenpapier horten oder jugendliche Teilnehmer von Skireisen unflätig beschimpfen.
Wer sich unsicher fühlt und Sorge vor einer Ansteckung hat, kann das Stadion und andere Veranstaltungen jederzeit meiden.
Das Prinzip der Eigenverantwortung gilt auch bei Veranstaltungen. In diesen Tagen gab es in Nordrhein-Westfalen großen Unmut, weil das Bundesligaspiel in Mönchengladbach stattfand, während eine große Party in der Dortmunder Westfalenhalle abgesagt wurde. Doch niemand hat einen Gladbach-Fan dazu gezwungen, zu diesem Fußballspiel zu gehen. Wer sich unsicher fühlt und Sorge vor einer Ansteckung hat, kann das Stadion und andere Veranstaltungen jederzeit meiden. Die umfangreiche Berichterstattung führt dazu, dass jedem jederzeit genügend Informationen vorliegen, um eigene Entscheidungen zu treffen. Und wer hustet und Fieber hat, sollte ohnehin zuhause bleiben, um andere nicht anzustecken.
Möglicherweise wird noch der Zeitpunkt kommen, an dem es sinnvoll sein könnte, Massenveranstaltungen generell abzusagen. Bis dahin haben wir vieles aber auch selbst in der Hand. Abseits der Frage, wer am Ende welche Veranstaltungen absagen sollte und ob ein zentrales Vorgehen nicht die sinnvollere Alternative wäre, gibt das Krisenmanagement in Politik und im Gesundheitssektor allerdings schon zu denken. Wenn eine Kassenärztliche Vereinigung in der Region Hannover sich darüber wundert, dass Fläche und Personal für Testzentren nur schwer zu finden ist, sollten sich die Bürger eher darüber wundern, warum danach eigentlich erst jetzt gesucht wird. Andernorts werden Teststäbchen für den Nachweis knapp, Mundschutz und Kittel fehlen sowieso, und das vermutlich nicht nur durch Hamsterkäufe. Deutschland, das immer gerne als ein wenig überorganisiert gilt, wird in diesen Tagen in einem wichtigen Bereich eher zu einer desorganisierten Mangelwirtschaft. Dabei war diese Situation einigermaßen planbar, weder Ärzteschaft noch Gesundheitspolitik bekleckern sich hier gerade mit Ruhm.
Niedersachsens FDP-Vorsitzender Stefan Birkner hat schon recht, wenn er es als beunruhigend empfindet, wenn schon in einer solche Lage eine „vorübergehenden Überforderung“ zu verzeichnen ist. „Beim Zusammenspiel zwischen Kassenärztlicher Vereinigung, Landkreisen und Land gibt es viele Schnittstellen, die nicht funktionieren“, stellte Birkner unlängst fest und fragte sich, was im Land eigentlich bei einer schärferen Form des Virus passiert. Die Diskussion, wie Deutschland mit kühlem Kopf eine solche Krise meistern kann, wird nötig sein, wenn die Panik das Land ebenso verlassen hat wie die akute Virusgefahr selbst.
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CONTRA: Es ist zu wenig über die Wirkungen des Corona-Virus bekannt, und ein Gegenmittel gibt es auch noch nicht, von einem Impfstoff ganz zu schweigen. Deshalb ist Vorsicht geboten. Wenn Jens Spahn, der einen guten Job macht, jetzt zur Absage von Großveranstaltungen rät, dann sollten die Länder dem folgen und entsprechende Verbote verhängen. Auch Niedersachsen stünde das gut zu Gesichte, meint Klaus Wallbaum.
Ja, es stimmt: An der „normalen“ Grippe sterben jährlich in Deutschland mehr Menschen, als nach den bisherigen Vermutungen vom Corona-Virus betroffen sein werden. Das ist aber auch die einzige verlässliche Nachricht aus diesem Vergleich. Ganz unterschiedliche Einschätzungen herrschen in der Wissenschaft zu vielen anderen Fragen. Ist der Verlauf der Corona-Erkrankung womöglich ernster, führt er häufiger zum Tode? Dafür gibt es Anzeichen. Gibt es schon wirksame Schutzvorkehrungen und Gegenmittel? Dafür gibt es bisher noch keine Anzeichen. Wird sich die Ansteckung rasend verbreiten? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, wenn die Leute wie bisher miteinander in Kontakt treten. Führt die Ansteckung dazu, dass viele Menschen Abwehrkräfte bilden? Es kann sein, dass viele Ältere dafür zu schwach sind und ohne eine intensive medizinische Betreuung sterben. Diese Betreuung wird aber spätestens dann nicht mehr gewährleistet werden, wenn es gleichzeitig sehr viele Fälle geben sollte und das Gesundheitssystem überlastet wird.
Es geht um Zeitgewinn, denn solange das Wachstum der Neuinfektionen übersichtlich bleibt, haben die Kliniken Gelegenheit, sich auf vermehrte Behandlungen einzustellen.
Eine explosionsartige Vermehrung der Erkrankungen in Deutschland kann sich gegenwärtig niemand richtig vorstellen. In der Bundesrepublik gab es eine Krise dieser Art bisher noch nicht, und die Grippetoten fanden bisher kaum medialen Widerhall, weil sie meistens noch andere Erkrankungen hatten und die Todesursache nicht klar zugeordnet wurde. Das alles aber ist noch kein Grund, eine vorsorgliche Politik nun als Panikmache abzutun. Das von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn empfohlene Verbot der Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Menschen dient einzig dem Zweck, einen vermuteten Ansteckungsherd auszuschalten und ein Zirkulieren des Virus, wie es in Italien jetzt schon passiert, zu verhindern oder wenigstens zunächst aufzuhalten.
Es geht also um Zeitgewinn, denn solange das Wachstum der Neuinfektionen übersichtlich bleibt, haben die Kliniken Gelegenheit, sich auf vermehrte Behandlungen einzustellen. Sie können Schutzkleidung beschaffen, sie können die interne Organisation auf den Tag X mit vielen Behandlungsfällen einstellen. Sie können das System der Isolation von betroffenen Patienten verfeinern. Und die Wissenschaft kann forschen und prüfen, wie das Virus möglichst gut bekämpft werden kann. Kurzum: Es kann all das geschehen, was eigentlich längst schon hätte geschehen müssen, wenn sich Deutschland gut genug auf derartige Epidemien eingestellt hätte.
Niemand sollte sich daher über die „Hamsterkäufer“ lustig machen – gerade nicht in einem durch und durch verwöhnten Land, in dem es die Menschen überhaupt nicht mehr gewohnt sind, sich auf schwierige Zeiten einzustimmen.
Natürlich droht ein wirtschaftlicher Schaden, wenn der Konsum einbricht, wenn Leute nicht mehr in die Gaststätten gehen, wenn Messen und Großveranstaltungen abgesagt werden und Hotelzimmer leer bleiben. Aber erstens lautete die Empfehlung von Spahn ja auch nicht, gleich das ganze öffentliche Leben lahm zu legen. Zweitens werden jetzt unter „Corona-Folgen“ viele konjunkturdämpfende Entwicklungen verbucht, die schon vor Ausbruch des Virus zu beobachten waren. Auch schon Ende 2019 gab es laute Rufer nach einem staatlichen Ausgabeprogramm zur Belebung der Wirtschaft. Aber ein staatlicher Anschub der Konjunktur lässt sich für die breite Masse heute viel besser begründen, wenn als Bösewicht dafür ein Krankheitserreger herhalten muss.
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Besonnenheit ist derzeit Trumpf. Deswegen sollte man Menschenaufläufe vermeiden, Demonstrationen für den Klimaschutz auf den Sommer verschieben, Großveranstaltungen nur in Ausnahmefällen zulassen und Grundregeln für den Krisenfall verinnerlichen: Abstand halten zu anderen Menschen, oft die Hände waschen, auf Umarmungen und Handschlag verzichten und beim Nießen aufpassen, dass man möglichst nicht andere damit belästigt. Auch eine angemessene Vorratshaltung, sogar von Toilettenpapier, ist durchaus sinnvoll. Niemand sollte sich daher über die „Hamsterkäufer“ lustig machen – gerade nicht in einem durch und durch verwöhnten Land, in dem es die Menschen überhaupt nicht mehr gewohnt sind, sich auf schwierige Zeiten einzustimmen.