1. Okt. 2019 · 
Bildung

Hubertus Knabe: „Die DDR wird verniedlicht“

Der Mann ist umstritten, er hat starke Gegner vor allem auf der linken Seite des politischen Spektrums. Dabei stammt Hubertus Knabe selbst aus dieser Ecke, früher einmal hat er in Bremen studiert. Aber der Historiker, der bis 2018 die Stasi-Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen geleitet hat, entwickelte sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem der schärfsten Kritiker des früheren SED-Systems. Kaum jemand streitet so vehement und gnadenlos gegen all jene, die von Sozialismus schwärmen oder die Vergangenheit in Ostdeutschland schönreden wollen. Am Dienstagabend eröffnete er auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Volkshochschule Langenhagen eine Ausstellung zum Thema „Die Mythen der DDR“. Sein Fazit vor den mehr als 70 Zuhörern war wenig erbaulich: „Es ist erschreckend, wie wenige Menschen heute noch eine Ahnung davon haben, was die DDR gewesen ist.“ [caption id="attachment_44005" align="alignnone" width="780"] Über die Wende lernten Schüler etwas "kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, also im Kalender der Schule kurz vor den Sommerferien" - Foto: kw[/caption] Die Adenauer-Stiftung unter ihrem Landesbeauftragten Christoph Bors und die VHS Langenhagen mit ihrer Leiterin Annette von Stieglitz haben sich zur Aufgabe gesetzt, die Erinnerung an die zweite deutsche Diktatur wach zu halten. Ähnlich wie Bors geht aber auch Knabe darüber hinaus: Er sieht als riesiges Problem jene schwärmerischen Haltungen, die gerade im vergangenen Sommer die politische Debatte geprägt haben – Mietendeckel, Enteignung von Wohnungen, Abkehr vom Kapitalismus und eine Klimaschutz-Bewegung, die auch die Systemfrage aufwirft und die parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster verändern oder gar beseitigen will. Anlässe, angesichts dieser Diskussionen gerade jetzt auf die DDR zurückzublicken, gibt es mehrere. Am morgigen 3. Oktober ist der Tag der Einheit, traditionell ein Anlass, an die Zeit der friedlichen Revolution zurückzudenken. Am kommenden Montag ist der 7. Oktober, der 70. Jahrestag der Gründung der 1990 untergegangenen DDR. Und Mitte nächster Woche, am 8. und 9. Oktober, ist es genau 30 Jahre her, dass in Leipzig und Dresden die Menschen zu Tausenden auf die Straße zogen und damit das marode System der DDR zum Einsturz brachten. [caption id="attachment_44037" align="alignnone" width="780"] „Es ist erschreckend, wie wenige Menschen heute noch eine Ahnung davon haben, was die DDR gewesen ist“, sagt Hubertus Knabe - Foto: kw[/caption] Was aber erfahren die Schüler heute noch darüber? Knabe verharrt in Skepsis. Im Geschichtsunterricht sei das Thema sehr spät an der Reihe, „kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, also im Kalender der Schule kurz vor den Sommerferien“. Dann sei vom kalten Krieg die Rede und von der Wiedervereinigung – aber was einen totalitäres Staat ausmache und wo die Unterschiede zu einem demokratischen System liegen, das bleibe im Unterricht oft unergründet. Wenn wenigstens in der Politik die Erinnerung an die DDR noch wach wäre, könne manche Debatte leichter sein – doch Knabe klingt auch hier resignativ: „Die Erfahrungen mit 40 Jahren Sozialismus sind in den Köpfen nicht mehr präsent.“ Da werde Karl Marx in Trier, nicht nur dort, zum 200. Geburtstag euphorisch gefeiert – über die Folgen seiner Ideologie, etwa im totalitären China, werde erst gar nicht gesprochen. In Berlin und andernorts würden DDR-Symbole als Andenken verkauft, DDR-Nostalgie-Gaststätten entstünden, der Alltag der DDR werde verniedlicht.
Die Erfahrungen mit 40 Jahren Sozialismus sind in den Köpfen nicht mehr präsent.
Für Knabe gibt das Gelegenheit, mit den Mythen aufzuräumen: Der Sozialismus erscheine zunächst positiv und erstrebenswert – Gleichheit, jeder nach seinen Bedürfnissen, Gerechtigkeit und Solidarität. Das sei verführerisch und verleite dazu, im Namen dieser Ideologie auch die Mittel für den Zweck zu heiligen. So war die Justiz in der DDR zur Parteilichkeit verpflichtet und alles andere als unabhängig. Die SED hielt sich mit der Stasi den größten Geheimdienst der Welt mit den meisten Mitarbeitern pro Kopf der Bevölkerung – ein „Staat im Staate“. Wenn junge Umwelt- und Klimaschützer heute rufen, der Kapitalismus mit seiner Profitgier zerstöre den Planeten, dann müsse man doch daran erinnern, was die DDR hier vorgeführt habe: Der Kohlendioxidausstoß sei höher gewesen als der in den USA, das Waldsterben sei fünfmal ausgeprägter gewesen als in der Bundesrepublik, die Flüsse seien als Abwasserkanäle genutzt worden und jeder zweite DDR-Bürger habe keine Garantie dafür gehabt, trinkbares Wasser aus seinen Wasserhähnen zu zapfen. https://www.youtube.com/watch?v=GIJoyoE9O_g Wenn der Sozialismus als Wegbereiter für sozialen Wohnungsbau gelobt und ein Mieterhöhungsverbot gefordert werde, dann gehöre zur Wahrheit, dass in der DDR die Mieten nicht steigen durften – und die Wohnungseigentümer kein Geld bekamen, die Häuser zu erhalten. In einer Aufstellung des Zentralkomitees der SED habe er gelesen, dass der in den verfallenden Altstädten steckende Schutt auf etwa dieselbe Menge wie die der Trümmer des Zweiten Weltkriegs geschätzt wurde. „Die DDR hat sich also selbst zum zweiten Mal zerstört.“

Westdeutsche Eliten reagieren "therapeutisch"

Weil in der Diktatur die Männer an der Spitze für alles verantwortlich gemacht werden – für die Wohnungen, den Arbeitsplatz, die Umwelt und sogar für die Versorgung mit Kaffee und Zahnbürsten, hätten die Eliten des SED-Staates große Angst vor dem Volk gehabt, sich abgeschottet und die Bürger in all ihrem Tun überwacht. Knabe wird gefragt, was er von der erst vor ein paar Tagen getroffenen Entscheidung des Bundestages halte, die Behörde für die Stasi-Unterlagen aufzulösen und deren Bestände in das Bundesarchiv zu überführen. „Ich verstehe das nicht“, sagt er, „gerade zu diesem Jubiläum wickelt man eine weltweit einzigartige Organisation für die Erinnerung einfach ab.“ Überhaupt empfindet der Historiker es als merkwürdig, wie zum 30. Jahrestag des Mauerfalls über die SED-Diktatur gesprochen werde. Schon 1990 sei es ein Fehler gewesen, die SED nicht zu verbieten – und der PDS die Chance zu geben, das alte Parteivermögen zu sichern und die alten Parteiakten zu vernichten. Und wenn Ostdeutsche heute sich beklagten über Benachteiligungen oder meinten, früher in der DDR sei doch alles besser gewesen, dann würden westdeutsche Eliten häufig „therapeutisch“ reagieren, Verständnis zeigen und mitleidig sagen: „Ihr musstet auch so viel durchmachen.“ Es sei fast schon so, als schämten sich viele Westdeutschen für die Wiedervereinigung, meint Knabe. „Das blicken andere Länder ganz anders, nämlich mit Stolz auf ihre Geschichte.“ (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #172.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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