
Der inhaltlich größte Klopfer kommt gleich zum Auftakt des Grünen-Parteitags in der Hamelner Rattenfängerhalle: Hanso Janßen, einer der beiden Landesvorsitzenden, spricht sich klar für einen raschen Importstopp für russische Energie aus – „zumindest für das Öl, um einen Anfang zu machen“. Das sehen viele in der Partei ähnlich, aber die Spitzen in Berlin halten sich diesbezüglich noch zurück. Robert Habeck und Annalena Baerbock, die beiden wichtigsten Grünen-Bundesminister, lehnen sofortige Schritte in diese Richtung noch wegen der unabsehbaren Folgen für die deutsche Wirtschaft ab. Janßen aber sagt: „Es gibt auch Studien, etwa von der Leopoldina, die für einen solchen Fall des sofortigen Importstopps von einem nur weniger starken Rückgang der Wirtschaftsleistung sprechen.“

Janßens Botschaft bleibt zunächst im Raum stehen, für ausgiebige Debatten über diese Frage haben die Grünen wenig Zeit, die weltpolitische Aussprache wird später nachgeholt. Im Mittelpunkt des Treffens steht etwas anderes, die Formierung der Landesliste für die Landtagswahl am 9. Oktober. Zeitgleich geschieht dies auch 50 Kilometer entfernt in Hildesheim bei der FDP. In beiden Fällen sind die Resultate weitestgehend so, wie es die Vorstände zuvor ausgehandelt hatten, auf den ersten Rängen bleiben größere Überraschungen aus. Julia Hamburg (35) aus Hannover und Christian Meyer (46) aus Holzminden sind das Grünen-Führungsduo für die Landtagswahl. Auf Rang 3 kommt eine Neueinsteigerin, die Grünen-Landesvorsitzende Anne Kura (38) aus Osnabrück.
Die FDP setzt an der Spitze auf zwei frühere Minister – Spitzenkandidat ist der Landes- und Fraktionsvorsitzende Stefan Birkner (48) aus Garbsen, an seiner Seite steht Jörg Bode (51) aus Celle. Auf Rang drei kommt die 40-jährige Lehrerin Imke Haake aus Oldenburg. In beiden Parteien ist es dem Vorstand gelungen, für die ersten 15 Plätze ein regional austariertes Kandidatentableau aufzustellen – bis auf wenige Ausnahmen tritt für jede Position nur ein Kandidat an, die allermeisten erreichen durchweg breite Mehrheiten von mehr als 80 Prozent.
Stefan Birkner (2.v.l.) jubelt, Generalsekretär Konstantin Kuhle (links) und Listen-Zweiter Jörg Bode (rechts) klatschen Beifall. Auf Listenplatz 3: Imke Haake aus Oldenburg. | Foto: Wallbaum
Allerdings offenbart die Kandidatenvorstellung sowohl bei den Grünen als auch bei der FDP an manchen Stellen ungewohnte Perspektiven – da die Bewerber entweder überraschende Positionen äußern oder sich eigenwillige Forderungen entlocken lassen. Die Grünen-Spitzenkandidatin Julia Hamburg wirft der rot-schwarzen Landesregierung „bräsiges Verwalten und Beschwichtigungen“ vor. Das von Stephan Weil geführte Kabinett komme „über Problembeschreibungen nicht hinaus“, die Selbstbeschreibung des Regierungschefs als „Maß und Mitte“ wirke wie „Mittelmaß“. Mit 194 Ja-Stimmen und 17 Enthaltungen erreicht die 35-Jährige ein sehr gutes Ergebnis. Christian Meyer auf Rang zwei erklärt, er wolle „Niedersachsen zum grünen Herzen der deutschen Energiewende“ ausgestalten. Für ihn gibt es 175 Ja-Stimmen und 28 Enthaltungen. Auffällig ist in der Rede von Gerald Heere (Hannover) für Platz vier, wie sehr er die Bundes-FDP attackiert. Sie zeige in der Corona-Politik „die mieseste und gefährlichste Strategie, die man sich vorstellen kann“. In Berlin wirke nicht Olaf Scholz wie der Kanzler, sondern das Team Baerbock und Habeck als „Doppelspitze für die Bundesrepublik“, sagt Heere, der mit Abstand die rhetorisch beste Rede hält.

Etwas schrill klingt die Kandidatin auf Platz sechs, die 33-jährige Nahostwissenschaftlerin Evrim Camuz aus Hannover. Sie fordert ein Wahlrecht – für Landtags- und Bundestagswahlen – nicht etwa schon für 16-jährige, sondern auch für 14- und 15-Jährige. Außerdem schimpft sie auf den Kampf der Großen Koalition in Niedersachsen gegen die Clan-Kriminalität. Für Camuz „organisiert Innenminister Boris Pistorius eine Legende gegen die angebliche Clan-Kriminalität“. Eher zum Schmunzeln gibt der Seitenhieb von Detlev Schulz-Hendel gegen CDU-Landeschef Bernd Althusmann Anlass: „Er betrachtet die Verkehrspolitik nur durch die Windschutzscheibe seines Dienstwagens.“
Die neue Landesliste der Grünen ist sehr stark links geprägt. Unter den ersten 23 Plätzen sind gerade mal drei Realos und drei Grünen-Kandidaten, die sich keiner Gruppierung zuordnen lassen wollen. Die restlichen 17 Kandidaten gehören dem linken Flügel der Partei an, der in Niedersachsen ohnehin schon dominant war und seine Macht jetzt gefestigt hat. So spricht vieles dafür, dass die nächste Grünen-Landtagsfraktion zu drei Vierteln aus Vertretern der Linken bestehen wird. Bei der FDP wird Stefan Birkner mit 95,6 Prozent zum Spitzenkandidaten gewählt.

Jubelstürme erntet Björn Försterling (Platz 6) für seinen Spott auf die SPD-Forderung nach 900.000 kostenlosen Tablets für Schüler: „Ich habe das Gefühl, Kultusminister Tonne will den Schülern Tablets in die Hand drücken, damit sie nicht merken, dass keine Lehrer in der Klasse sind.“ Die Vorschläge des FDP-Vorstandes für die ersten zehn Listenplätze bleiben jeweils ohne Gegenkandidaten – obwohl es im Vorfeld Vorbehalte gab, etwa gegen die 29-jährige Katharina Wieking aus Hannover für Rang sieben. Sie erringt 178 Ja-Stimmen bei 102 Nein-Stimmen und 15 Enthaltungen. Die ersten Gegenkandidaturen gegen den Vorstandsvorschlag regen sich indes erst für Platz 11. Gegen die vom Landesvorstand ins Rennen geschickte Hillgriet Eilers (Emden) treten drei Mitbewerber an – aus Cloppenburg, Lüneburg und Buxtehude. Doch Eilers setzt sich souverän mit 189 Stimmen durch.

Die ersten zehn Plätze der Grünen sind: Julia Hamburg (Hannover), Christian Meyer (Holzminden), Anne Kura (Osnabrück), Gerald Heere (Hannover), Miriam Staudte (Lüneburg), Evrim Camuz (Hannover), Meta Janssen-Kucz (Ostfriesland), Detlev Schulz-Hendel (Lüneburg), Pippa Schneider (Göttingen) und Volker Bajus (Osnabrück). Der Abgeordnete Dragos Pancescu (Wesermarsch) verpasste die Wiederaufstellung.

Die ersten zwölf Plätze bei der FDP: Stefan Birkner (Hannover), Jörg Bode (Celle), Imke Haake (Oldenburg), Marco Genthe (Diepholz), Christian Grascha (Northeim), Björn Försterling (Braunschweig), Katharina Wieking (Hannover), Susanne Schütz (Braunschweig), Hermann Grupe (Holzminden), Benno Schulz (Oldenburg), Hillgriet Eilers (Emden) und Lars Alt (Helmstedt).
Der FDP-Landesparteitag, der Stefan Birkner am Sonnabend mit 92,7 Prozent als FDP-Landesvorsitzenden bestätigt, diskutiert auch über die Ukraine-Krise. Beschlossen wird eine Resolution, in der eine möglichst gute Betreuung, Unterbringung und Versorgung der aus der Ukraine Vertriebenen gefordert wird – außerdem heißt es: „Die Abhängigkeit von Rohstoffimporten aus Russland muss so schnell wie möglich beendet werden.“ Der Rotenburger Delegierte Alexander Künzle rügt, man könne „noch viel mehr tun“. Dazu gehöre die Reaktivierung von Bunkeranlagen. Denkbar sei es auch, deutsche Flugplätze als Ausweichquartiere für die ukrainische Armee bereit zu stellen. Diese letzte Forderung von Künzle wird von der Mehrheit nicht in den Antrag aufgenommen. FDP-Vize Jörg Bode erklärt, Deutschland müsse „den Zustand der Gemütlichkeit überwinden“, Genehmigungsverfahren müssten drastisch „von Jahren auf Wochen verkürzt werden“, die Wirtschaft müsse „entfesselt werden“.

Auf der Grünen-Tagung sagt die neue Bundesvorsitzende Ricarda Lang als Gastrednerin: „Das Prinzip ,Wandel durch Handel‘ ist nicht aufgegangen.“ Die Europaabgeordnete Viola von Cramon aus Göttingen fordert, wegen der drohenden Getreidekrise als Folge des Krieges die Massentierhaltung zu beenden – dann brauche man nicht mehr so viel Weizen für die Fütterung von Schweinen und Geflügel. Der Bundestagabgeordnete Jürgen Trittin ruft dazu auf, die Kohleimporte aus Russland sofort einzustellen – und die Ölpipeline von Russland, die bei Schwedt in Brandenburg ankommt, „noch in diesem Frühjahr zu kappen“. Das werde „unbequem, teuer und schmerzhaft“, aber es müsse sein. Die Gas-Importe klammert Trittin aus.
Rundherum fühlen sich Grüne und FDP nicht nur personell frisch aufgestellt, sondern auch in anderer Hinsicht. FDP-Landesschatzmeister Christian Grascha verkündet nicht ohne Stolz, dass die Freien Demokraten schon 2021 eine „sehr erfreuliche Spendenentwicklung“ gehabt hätten. Darauf hoffe man auch in diesem Jahr, nämlich auf „Spenden in sechsstelliger Höhe“, hinzu kämen eigene Mittel der FDP für den Landtagswahlkampf von 450.000 Euro. Die gute Finanzlage liegt auch daran, dass der FDP-Landesverband 2021 einen Zulauf von 2500 neuen Mitgliedern verbuchen konnte. Die Grünen-Landesvorsitzende Anne Kura hat noch bessere Zahlen. Seit 2017, als die vergangene Landtagswahl war, hat sich die Zahl der Grünen-Mitglieder in Niedersachsen auf 12.500 verdoppelt. Die FDP Niedersachsen hat rund 7700 Mitglieder.
