Schon zum zweiten Mal in seiner Geschichte hat der niedersächsische Landtag nun im Ausnahmezustand getagt. Zum ersten Anlass dieser Art, vor fast genau einem Monat, überwog noch das Staatstragende. Die Opposition beeilte sich damals am 24. März, der Regierung ihren Dank auszusprechen. Gestern aber, einen Monat später, ähnelte das Parlament schon wieder der Volksvertretung, wie sie früher einmal war: Grüne, FDP und AfD übten heftige Kritik am Landeskabinett, Zwischenrufe wurden laut und auch die Koalitionsvertreter wirkten weniger nachdenklich und philosophisch (wie noch Ende März) sondern wieder stärker wie Verteidiger der Regierung.


Lesen Sie auch:

Weil: „Lockerungen gerne, aber nur schrittweise und vorsichtig“

Ex-Hannover-OB Schostok vom Untreue-Vorwurf freigesprochen


Also alles wieder im Lot? Nein, auch wenn eine gewisse Gewöhnung an das Ungewöhnliche spürbar ist, blieb auch gestern noch ein Schatten, eine gewisse Distanziertheit. Dazu trugen schon die Abstandsregeln zwischen den Stuhlreihen bei – und die notwendigen Pausen zwischen den Redebeiträgen, in denen Mitarbeiter der Landtagsverwaltung Mikrophon und Stehpult desinfizieren müssen. Es war ernster als in früheren Monaten, es wurde weniger gescherzt und gelacht. Die Anspannung, die im März noch beherrschend war, blieb jetzt immer noch überragend. Und sie wurde im Verlauf der Sitzung phasenweise stärker.

Birkner listet Fehler beim Krisenmanagement auf

Es war der FDP-Fraktionsvorsitzende Stefan Birkner, der eine Rede hielt, die wohl zu den stärksten und treffendsten in seiner bisherigen Landtagslaufbahn gehörte. Dabei listete er, ruhig im Ton, hart in der Sache, eine ganze Reihe von Fehlern und Versäumnissen im Krisenmanagement der vergangenen Wochen auf. Die Ansage von Ministerpräsident Stephan Weil in seiner Regierungserklärung, man könne eine erneute Verschärfung der Kontaktverbote nicht ausschließen, falls die Infektionen wieder zunähmen, sei „nicht ausreichend“, sagte Birkner.

Herr Weil, verstecken Sie sich nicht länger hinter der Kanzlerin und den anderen Ministerpräsidenten, sondern übernehmen Sie die Verantwortung, für die Sie gewählt worden sind.

Es handele sich um schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte, und solche bräuchten eine detaillierte Rechtfertigung. „Sie müssen konkreter werden“, forderte der FDP-Chef. Welche Maßstäbe gelten bei den Zahlen der Ansteckungen, bei der Auslastung der Krankenhäuser, bei Nachverfolgung von Infektionsketten und bei neuen Formen wie der Handy-App, bleibe bei der Landesregierung im Dunkeln.

„Herr Weil, verstecken Sie sich nicht länger hinter der Kanzlerin und den anderen Ministerpräsidenten, sondern übernehmen Sie die Verantwortung, für die Sie gewählt worden sind“, rief Birkner in den Saal. „Uneindeutig und zögerlich“ sei auch das Verhalten in der Masken-Frage. Nachdem die SPD-Oberbürgermeister in Wolfsburg und Braunschweig „das Abwarten in der Planckstraße“ nicht mehr ertragen hätten und vorgeprescht seien, habe auch die Landesregierung endlich nachgezogen – aber nur mit dem Argument, nicht hinter den anderen zurückstehen zu wollen. „Damit haben Sie dem Ansinnen einen Bärendienst erwiesen.“

https://soundcloud.com/user-385595761/so-lief-die-landtagsdebatte-zur-coronakrise

Als Birkner mit seiner Rede endete, herrschte minutenlang absolute Stille im Parlament. Kurz zuvor hatte schon Julia Hamburg, die Grünen-Fraktionschefin, kein gutes Haar am Handeln der Regierung gelassen. Sie hatte es ein „fatales Signal“ genannt, dass die Landesregierung die neue Maskenpflicht nicht aus Überzeugung vertrete, da natürlich davon auch ein gewisser Schutz ausgehe, sondern nur widerwillig, weil die Städte Wolfsburg und Braunschweig sie dahin gedrängt hätten. Ein gezieltes und überlegtes Lockern der Verbote sei sinnvoll – aber dies müsse mit Klarheit, Augenmaß und Kriterien gehen.

Die übereilte Öffnung der Geschäfte habe in Hannover dazu geführt, dass in der Georgstraße wieder 35.000 Menschen täglich durchströmten statt 5000 einige Tage zuvor. „Da werden Abstände nicht mehr eingehalten.“ Es werde zu wenig auf Corona getestet, so bleibe ein Überblick über die Ausbreitung in Niedersachsen reine Spekulation.

Noch schärfer ging AfD-Landeschefin Dana Guth mit der Regierung ins Gericht, die sich outete als Anhängerin von noch viel weitgehenderen Lockerungen. Sie verstieg sich in ihrer Rede sogar zu der These, das Virus werde von der Regierung dazu genutzt, die Grundrechte einzuschränken. „Wenn es Corona nicht gäbe, müsste man es erfinden.“ Was Greta Thunberg für die Klimaschützer gewesen sei, sei jetzt der Virologe Christian Drosten in der Corona-Krise – eine außerparlamentarische Leitfigur, die zur Rechtfertigung geplanter Eingriffe diene. Klaus Wichmann (AfD) nannte die 800 Quadratmeter-Regel für Geschäfte „reine Willkür“, da sie in keinem Bezug stehe zum eigentlich wichtigen Infektionsschutz-Kriterium, den Abstandsregeln.

Wenn wir nicht aufpassen, könnten wir schneller als gedacht exakt in dieselbe Bedrohung zurückfallen, von der ich Ihnen vor einem Monat berichtet habe.

Die Koalition reagierte darauf mit verteilten Rollen. Zum Auftakt der Plenardebatte hatte der Ministerpräsident noch für Verständnis geworben und betont, wie wenig Zeit für eine Entwarnung sei. Zunächst spüre er persönliche Erleichterung, da die bisherigen Beschränkungen offenbar wirkten. Das Infektionsgeschehen sei allerdings nicht beseitigt, „nur vorerst unter Kontrolle“. Man stehe bei diesem Virus nur am Beginn eines neuen Kapitels, die nächste Etappe werde „womöglich noch viel schwieriger“: „Wenn wir nicht aufpassen, könnten wir schneller als gedacht exakt in dieselbe Bedrohung zurückfallen, von der ich Ihnen vor einem Monat berichtet habe.“ Da die Krise auch eine „harte Wirtschaftskrise“ sei, werde man womöglich am Ende noch einen weiteren Nachtragshaushaltsplan brauchen. Wenn das so komme, werde man „eine angemessene parlamentarische Beratung ermöglichen“.

SPD-Fraktionschefin Johanne Modder sprang Weil zur Seite. Das enge Zusammenwirken von Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden und Kirchen in der neuen Initiative „Niedersachsen hält zusammen“ erinnere an die Flüchtlingskrise von 2015, als das bereits einmal erfolgreich war. Sinnvoll sei jetzt außerdem, die nötigen weiteren Schritte auch von einer Expertenkommission begleiten zu lassen.

Glücklicherweise tut sich die Landesregierung schwer mit der Einschränkung von Grundrechten.

Dem CDU-Fraktionsvorsitzende Dirk Toepffer blieb die Aufgabe überlassen, die Angriffe der Opposition zu kontern. Toepffer versuchte das, indem er die Vorzüge des eher zurückhaltenden Stils von Ministerpräsident Weil und seinem SPD/CDU-Kabinett hervorhob: „Glücklicherweise tut sich die Landesregierung schwer mit der Einschränkung von Grundrechten.“ Die parlamentarische Kontrolle klappe auch in Krisenzeiten, das bewiesen Korrekturen an der Verordnung zum Kontaktverbot und auch an der Arbeit der N-Bank.

FDP und Grüne aber wollten sich in der Krise „profilieren und überbieten“. Der Vorwurf von Hamburg, auf der Georgstraße in Hannover werde das nötige Abstandsgebot schon wieder missachtet, stimme schlicht nicht: „Einerseits sind die meisten Leute sehr diszipliniert, andererseits wollen sie aus den Häusern raus. Akzeptieren Sie die Schwächen der Menschen – sie haben Gefühle und Sehnsüchte“, betonte Toepffer. (kw)