Das Ihme-Zentrum: gescheiterte Utopie im Herzen der Landeshauptstadt
Ist Niedersachsens Landeshauptstadt keine Reise wert? Laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Drei-Quellen-Mediengruppe finden nur neun Prozent der Befragten Hannover attraktiv. Unbeliebter ist nur Saarbrücken. Dieses Ergebnis hat in Hannover für viel Verwunderung gesorgt. Deshalb blicken wir nun genauer hin auf die Baustellen dieser Stadt. Heute: das Ihme-Zentrum.
Wenn man beginnt, sich mit den schönen und schaurigen Seiten Hannovers zu beschäftigen, kommt man am Ihme-Zentrum nicht vorbei. Brachial erhebt sich der 70er-Jahre-Brutalismus-Bau entlang des zarten, kleinen Flusses, der sich durch Niedersachsens Landeshauptstadt schlängelt. Viele Menschen verabscheuen den Betonklotz und würden ihn gerne abreißen lassen.
So einfach ginge das allerdings nicht, was manch andere dann sogar freut. Ein Fan und Verteidiger des Kolosses ist zum Beispiel Jan-Philippe Lücke. Er ist nicht nur einer von knapp 1500 Bewohnern des gigantischen Gebäudekomplexes, sondern auch Vorstandsmitglied des Vereins „Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum“. Lücke hat es sich zur Aufgabe gemacht, Kritikern die Schönheit des Ensembles näherzubringen und den Prozess der Neugestaltung kritisch-konstruktiv zu begleiten. Denn die Stadt und die Bewohner haben schon viele Investoren kommen und gehen sehen, ohne dass etwas besser wurde.
Zur Person: Jan-Philippe Lücke
Zur Person: Jan-Philippe Lücke (32) ist 2009 von Helmstedt nach Hannover gezogen und hat sich recht schnell in das Ihme-Zentrum verliebt. 2012 ist er dort eingezogen – „als das eigentlich niemand wollte“. Nachdem sich 2016 die „Zukunftswerkstatt Ihme-Zentrum“ gegründet hat, ist der freischaffende Künstler rasch in den Verein eingetreten und arbeitet dort im Vorstand mit. Lücke bewohnt mit seiner zweijährigen Tochter eine Drei-Zimmer-Wohnung in einem der Türme. In der Krippe des Ihme-Zentrums war für die Kleine allerdings kein Platz mehr frei. Jetzt muss sie „auf der falschen Seite der Ihme“ die Krippe besuchen.
Der neuste Plan sieht nun vor, dass bis Mitte 2023 die dunklen Passagen aufgehübscht und mehr luftige Schneisen durch das graue Fundament geschlagen werden sollen. Alles möge moderner werden, Geschäfte sollen das Leben zurückbringen, wo es derzeit nach Bauruine aussieht und man nicht nur nachts ins Gruseln kommt. Dass am Ihme-Zentrum gearbeitet wird, sieht man allerdings derzeit von außen noch nicht so richtig. Viele Hannoveraner fragen sich deshalb, ob es denn diesmal klappen wird mit der Sanierung der Dauerbaustelle.
Jan-Philippe Lücke jedoch weiß, dass sich etwas tut, und zwar am Betonfundament. 500 Säulen, auf denen der Gebäudekomplex steht, werden dieser Tage untersucht und in Schuss gesetzt. „Das merken aber nur die, die direkt über der entsprechenden Säule wohnen“, verriet Lücke dem Politikjournal Rundblick. Schaut man sich die Baustelle im Erdgeschoss des Ihme-Zentrums an, erfährt man noch einmal auf ganz andere Weise die Dimensionen des Komplexes. Denn auf dieser Ebene befinden sich auch die zwei Altpapier-Sammelstellen, das Altglas-Lager und das Sperrmüll-Depot. Wofür man in einer normalen Wohngegend ein Stück weit fahren muss, ist im Ihme-Zentrum quasi hausintern zu bekommen.
Zum „Service“ der Anlage gehört auch, dass der Hausmüll durch Müllschlucker nach unten gelangt und dort von einem Angestellten zu den entsprechenden Sammelpunkten gefahren wird. Es gibt übrigens nicht nur einen Hausmeister für alle, sondern auch so etwas wie Haussprecher, die ersten Kontaktpersonen bei Problemen. Die Logistik lässt erkennen, dass das Ihme-Zentrum so etwas wie ein kleines Dorf mitten in einer großen Stadt ist oder wenigstens sein möchte.
Die Idee war: das Dorf in der Stadt
Doch das Schicksal, das viele Innenstädte derzeit erleiden, hat das Ihme-Zentrum schon vor einigen Jahren ereilt: Der Stadtkern ist verwaist, die Ladengeschäfte sind geschlossen, alles verfällt. Lücke und seine Verbündeten stemmen sich aber gegen diesen Verfall. „Das Ihme-Zentrum ist eine gescheiterte Utopie, die wieder auflebt“, sagt er. Die Idee war: das Dorf in der Stadt, Co-Working-Spaces, die autofreie Innenstadt und alles Wichtige verdichtet an einem Ort – doch der Traum platzte.
Lücke ist aber davon überzeugt, dass sich das gerade wieder ändert. „Das Ihme-Zentrum war seiner Zeit einfach voraus. Meine Generation will genau das alles wieder haben“, sagt er. Wenn Lücke Besuchern das Ihme-Zentrum näherbringen will, stößt er regelmäßig auf etwas, das er dann „Generation Gap“ nennt: Es seien „die Boomer“, die das Wesen der Anlage nicht verstünden. Teilweise mag das auch an der Geschichte des Hauses liegen.
Lücke selber fasst es so zusammen: erst Terroristen (RAF), dann Prostituierte und dann Punks. Zu dieser Zeit, gesteht Lücke, hatte das Ihme-Zentrum seinen schlechten Ruf „teilweise zurecht“. Aber heute? „Wir haben eine sehr gute und solidarische Nachbarschaft“, sagt er. Sogar die „Originale“ grüßten freundlich und erkundigten sich nach dem Befinden der Haustiere.
Es sei zudem eine bunt durchmischte Nachbarschaft: „Die Kassiererin wohnt hier neben dem Doktor.“ So vielfältig wie die Wohnungsarten: Von der Single-Wohnung bis zum Penthouse. Und dann sind da eben die vielen Kreativen, die Studenten und Künstler, wie er selbst. Für Lücke ist klar: Das Ihme-Zentrum wird wieder aufleben und gehört einfach zu Hannover, das er als „Blaupause für die moderne europäische Stadt“ feiert.
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