Fordern eine „Bildungswende“, um den Fachkräftebedarf im Handwerk zu decken (von links): Eckhard Stein, Hildegard Sander, Frank Oettinger, Manfred Wehlmann. | Foto: LHN/Sonja Segerdahl

Die Frage nach der Berufswahl treibt die meisten Schulabgänger um – aber die Schulen, so die Klage der Handwerker, leisten nicht die richtigen Hilfestellungen. Laut der Bertelsmann-Stiftung fehlt mehr als der Hälfte der Jugendlichen die berufliche Orientierung. Nur wenige wählen dann am Ende eine Ausbildung im Handwerk, bemängelte die Landesvertretung der Handwerkskammern Niedersachsen (LHN) am Mittwoch. Sie sieht die Politik und das Kultusministerium in der Pflicht und fordert eine grundsätzliche Bildungswende und eine Überprüfung der Bildungsinhalte. In diesem Jahr konnten 46 Prozent der befragten Betriebe nicht alle Ausbildungsplätze besetzen, das entspricht einem Zuwachs von acht Prozent im Vergleich zum Vorjahr, so das Ergebnis einer aktuellen LHN-Umfrage. Dabei würden 88 Prozent der befragten Betriebe bereits während der Ausbildung eine Weiterbeschäftigung in Aussicht stellen.

Frank Oettinger leitet das Unternehmen Carl Oettinger Gesundheitstechnik in Hannover. | Foto: Struck

„Auf der Grundlage der schulformspezifischen Zielsetzungen ist die berufliche Orientierung an Schulen sowohl auf eine Berufsausbildung als auch auf ein Studium ausgerichtet“, steht in dem Ende 2018 in Kraft getretenen Erlass „Berufliche Orientierung an allgemein bildenden Schulen“. „Der Erlass wird aber nur sehr eingeschränkt umgesetzt“, kritisiert LHN-Vorsitzender Eckhard Stein. Stattdessen sei es immer noch stark von der jeweiligen Lehrkraft abhängig, wie sehr Ausbildungsberufe beworben werden. Auf schulinternen Berufsmessen stünden nach wie vor meist akademische Berufe im Vordergrund. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass besonders an den Gymnasien nicht die Bandbreite der ganzen Handwerksberufe im Fokus steht“, sagt LHN-Hauptgeschäftsführerin Hildegard Sander. Den Eindruck bestätigen auch vier Auszubildende der Carl-Oettinger-Gesundheitstechnik in Hannover. Keiner von ihnen wurde in der Schule auf den Handwerksberuf aufmerksam, sondern allesamt nur durch Familienangehörige oder Freunde. „Da wurde kein Ausbildungsberuf gut präsentiert. Eine klassische Berufsberatung gab es in dem Sinne nicht“, berichtet Eriks Komarovs, der erst die Realschule und später das Gymnasium besuchte. 

Die Azubis (von links): Lou-Marissa Dyba, Eriks Komarovs, Maik Heinrich und Marc Wehlmann. | Foto: Struck

Bereits im Grundschulalter hätten die wenigsten Schüler einen durchgängigen Werkunterricht, das setze sich dann in den meisten weiterführenden Schulen so fort, sagt Stein. Die Folge sei eine Abnahme der motorischen, haptischen, sensorischen und gestalterischen Tätigkeiten. Frank Oettinger, Geschäftsführer der Gesundheitstechnik-Firma, kann davon ein Lied singen. „Ich wurde von Gesellen darauf hingewiesen, dass einige nicht einmal das Bohren oder das Sägen können“, erzählt Oettinger, dessen 75-köpfiger Betrieb aktuell 15 Auszubildende zählt.



Seit zwei Jahren gibt es deshalb für alle Ausbildungsanfänger, unabhängig von ihrem Wissensstand, im ersten Monat ein Boot-Camp. 14 Tage lang lernen die Auszubildenden sägen, bohren, löten und schweißen. Der positive Nebeneffekt: „Das stärkt auch das Selbstbewusstsein jedes einzelnen und verfestigt das Team“, sagt Manfred Wehlmann, der seit 1990 Ausbilder bei dem Unternehmen ist. Im Anschluss folgen zwei Wochen Praktikum in einem Abhollager beim Großhandel. „Da kam viel positive Resonanz. Einige Großhändler haben schon gefragt, ob sie uns nicht auch mal ihre Auszubildenden schicken können“, freut sich Wehlmann.

„Das Thema Berufsorientierung muss im Kultusministerium mit einem eigenen Referat einen höheren Stellenwert bekommen.“

Vor allem das Kultusministerium muss aus Sicht der LHN schnell gegen den Trend zur Akademisierung und die Schieflage im Bildungssystem ansteuern. Bereits heute bestehe in jedem zweiten Betrieb keine Möglichkeit mehr, dass ein Familienmitglied später das Geschäft übernehmen könne. „Es bestehen damit große Chancen für alle, die unternehmerische Selbstständigkeit wollen“, betont Stein. Mögliche Lösungen wären die Einführung des Werkunterrichts als verbindliches Fach in der Grundschule – in  der weiterführenden Schule – besonders am Gymnasium – solle ein neues Unterrichtsfach „Lebensvorbereitung“ entstehen, das über Versicherung, Steuererklärung und Jobfindung Kenntnisse vermitteln könne. „Das Thema Berufsorientierung muss zudem im Kultusministerium mit einem eigenen Referat einen höheren Stellenwert bekommen“, sagt Stein, der auch gern Ausbildungsbotschafter stärker unterstützt und öffentlich finanziert wissen würde. Der LHN-Vorsitzende Stein appelliert: „Für einen verlässlichen Ausbildungspakt muss die neue Landesregierung Farbe bekennen.“