22. Juli 2020 · 
Bildung

Gäfgen-Track: „Die Kirche muss raus in die Welt!“

Die Kirchen in Niedersachsen leiden unter einem hohen Mitgliederschwund. Was sollten die dort Aktiven tun, um dem zu begegnen? Wo liegen die Ursachen dafür, dass sich Menschen von der Kirche abwenden? Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation der evangelischen Kirchen in Niedersachsen, sieht als einen wesentlichen Grund auch einen Wandel in der Gesellschaft, aber auch ein Übersetzungsproblem der Kirchen. Sie äußert sich im Interview mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick. [caption id="attachment_52581" align="alignnone" width="780"] Foto: Tomas Lada[/caption] Rundblick: Hören Sie nicht auch immer wieder, dass die evangelische Kirche eigentlich zu weit links stehe und sich von bürgerlichen Positionen entfernt habe? Gäfgen-Track: Doch, das höre ich immer wieder mal. Manche sagen dann auch, wir würden bei Umwelt- und Klimafragen undifferenziert die Haltung einer politischen Partei wiedergeben. Viele Vorhaltungen stimmen nicht, wenn man genauer nachfragt und nachliest, wie differenziert unsere Einlassungen sind. Auf der anderen Seite gilt aber auch: Es kann uns als Kirche nicht kalt lassen, wenn tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken. Dann dürfen wir nicht schweigen und müssen aktiv werden.
Ich persönlich war auch nicht dafür, ein Rettungsschiff finanziell zu unterstützen. Tatsache ist aber, dass es eine Initiative aus der Mitte der Kirche war, sehr viele Menschen dafür gespendet haben und es insgesamt deutlich mehr Zustimmung als Kritik gegeben hat.
Rundblick: Das geschieht nun aber häufig so, dass Grundsatzpositionen vorgetragen werden. Muss man dann nicht auch vor dem Handel der Schleuser warnen und dazu raten, Flüchtlingslager womöglich in Nordafrika aufzubauen, damit die Leute sich nicht auf die gefährliche Reise über das Mittelmeer begeben? Gehört zur Gesinnungs-, nicht auch die Verantwortungsethik? Gäfgen-Track: Die Welt ist sehr kompliziert, es gibt oftmals kein schlichtes Richtig oder Falsch: Als Kirche können wir doch nicht darauf verzichten, ein Rettungsschiff zu unterstützen, das Leben rettet, weil das vermeintlich ein aufmunterndes Signal an Schleuserbanden sendet. Und die Zustände in den Flüchtlingslagern in Nordafrika sind oftmals katastrophal und menschenunwürdig. Von einer Lösung der Flüchtlingsfrage sind wir noch meilenweit entfernt. Aus unseren Positionen wird schon deutlich, dass wir uns die Mühe machen und im Detail abwägen. Ich persönlich war auch nicht dafür, ein Rettungsschiff finanziell zu unterstützen. Tatsache ist aber, dass es eine Initiative aus der Mitte der Kirche war, sehr viele Menschen dafür gespendet haben und es insgesamt deutlich mehr Zustimmung als Kritik gegeben hat.
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Rundblick: Flüchtlingsschicksal, Fleischindustrie, Sonntagsruhe – das sind alles Themen, in denen die Kirche das Wort erhebt. Immer wieder eckt die Kirche damit bei vielen Leuten an, warum? Gäfgen-Track: Diese Themen sind gesellschaftlich schwierig zu lösen, weil sie eine grundsätzliche Verhaltensänderung vieler Menschen brauchen, die manchmal tief in das eigene Lebensgefühl eingreift. Menschen sind für Umweltschutz und Klimaschutz, aber sie wollen auf den Heizpilz in ihrem Garten nicht verzichten, um im Herbst noch auf der Terrasse sitzen zu können. Viele wollen das neueste Smartphone, ständig neue Mode, aber blenden dabei die negativen Folgen für die Umwelt aus. Die Storno-Kosten bei den Klassenfahrten angesichts von Corona sind auch deshalb so hoch, weil die Schulen kaum mehr in den Harz fahren, sondern teure Ziele im Ausland ansteuern. In einer solchen Umgebung hat es die Kirche mit ihrer Botschaft „Weniger ist mehr für alle gemeinsam“ erkennbar schwieriger.
Kirche ist nicht nur Moral, Kirche steht für Sinn, Lebensfreude, Trost, Beziehung und Hoffnung. Da erwarten sich aber viele Menschen nichts mehr von uns, treten aus.
Rundblick: Hören die Menschen nicht mehr auf die Kirche? Gäfgen-Track: Sie geben uns auf der einen Seite recht – aber sie befürchten auf der anderen auch die Veränderung ihres Lebensstils. Sie hören es als Mahnung zum Verzicht, als Appell zur Veränderung, aber wir können immer schwerer unser Kernprodukt, den Glauben vermitteln. Unser Kapital ist es, Orientierung, Sinn und Wahrheit aus dem christlichen Glauben zu übersetzen: Umgang mit Leben und Tod, Sorge um das eigene gute Leben und Mitverantwortung für ein menschenwürdiges Leben anderer ebenso wie die Mitgestaltung von Gesellschaft. Kirche ist nicht nur Moral, Kirche steht für Sinn, Lebensfreude, Trost, Beziehung und Hoffnung. Da erwarten sich aber viele Menschen nichts mehr von uns, treten aus. Rundblick: Ist das der einzige Grund für einen Kirchenaustritt? Gäfgen-Track: Da sind noch die, denen die Kirche noch viel zu zurückhaltend und zu gemäßigt auftritt. Etwa die Hälfte der Deutschen gehört noch einer der beiden Kirchen an – und unsere Aufgabe ist es auch, die unterschiedlichen religiösen und politischen Positionen unserer Mitglieder abzubilden. [caption id="attachment_52584" align="alignnone" width="780"] Foto: Tomas Lada[/caption] Rundblick: Manchmal hat man das Gefühl, die AfD wird ausgegrenzt, während gegenüber undemokratischen Haltungen auf der extremen Linken eine zu große Toleranz herrscht… Gäfgen-Track: Meine Haltung ist: Gewalt in welcher Form auch immer kann nie ein Weg sein, von welcher politischen Seite diese auch immer befürwortet wird. Politischer Extremismus, egal ob er von rechts oder links kommt, ist mit unserer christlichen Grundüberzeugung nicht vereinbar. Rundblick: Mischt sich die Kirche zu sehr in die Politik ein? Gäfgen-Track: Das ist ein ewiger Streit auch bei uns. Die einen, zu denen ich gehöre, sehen die Aufgabe der Christen darin, in die Welt zu gehen und sich einzubringen. Das ist doch unser Kerngeschäft. Wo die Menschen hungern, wo sie auf der Flucht sind, wo sie unter Kriegen leiden – da müssen wir unsere Stimme erheben. Andere sehen es anders und raten dazu, die Kirche müsse sich auf die Kirchenmitglieder konzentrieren und sich aus politischen Debatten raushalten. Aber Glauben existiert nicht im luftleeren Raum, sondern mitten im Leben, auch im politischen.
Gute Prediger können dazu beitragen, dass mehr Menschen sich überlegen, ob sie der Botschaft der Kirche Vertrauen entgegen bringen können und an manchen Stellen ihr Verhalten vielleicht doch ändern sollten.
Rundblick: Aber erreichen Sie mit Ihren Botschaften, auch den politischen, überhaupt noch die einfachen Leute? Gäfgen-Track: Das wird zunehmend dort ein Problem, wo wir uns im Kreis von studierten Leuten befinden, die ähnlich ticken und argumentieren. Früher haben auch die anderen, die weniger im öffentlichen Diskurs erfahrenen Gläubigen gesagt: Zwar habe ich den Pfarrer nicht ganz verstanden, aber er wird schon recht haben. Heute wird den Vertretern der Kirche dieses Vertrauen nicht mehr selbstverständlich entgegengebracht. Rundblick: Braucht die Kirche andere Leute, damit sie sich wieder mehr Gehör verschaffen kann? Gäfgen-Track: Auf jeden Fall kann es von Vorteil sein, wenn wir – auch in den Synoden – Menschen mit Charisma und Sendungsbewusstsein haben. Mein Vater hat immer gesagt: „Auch wenn Du Kaviar studiert hast, musst Du Leberwurst sprechen.“ Gute Prediger können dazu beitragen, dass mehr Menschen sich überlegen, ob sie der Botschaft der Kirche Vertrauen entgegen bringen können und an manchen Stellen ihr Verhalten vielleicht doch ändern sollten. Und die Kirche sollte auch dort aktiv werden, wo sie gebraucht wird. Rundblick: Wo wäre das, Ihrer Meinung nach? Gäfgen-Track: Etwa in der Bildungspolitik. Ich finde es, mancher Kritik zum Trotz, völlig richtig, dass die Kirche sich hier engagiert für Schüler, die wegen der Corona-Beschränkungen einen Nachholbedarf haben und diesen in den nächsten Wochen und Monaten wettmachen wollen. Dass wir uns hier engagieren, entspricht einer tiefen lutherischen Tradition: Martin Luther und Philipp Melanchthon haben die Volksschule begründet – in Abkehr von allein kirchlichen Schulen, die nur begrenzten Kreisen den Zugang zu Bildung ermöglichte. Übrigens sollten damals Jungen und auch Mädchen davon profitieren – ein Beispiel für den fortschrittlichen Teil in der Überlieferung von Luther.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #139.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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